Freitag, Dezember 22, 2006

Alternatives Weihnachts-Fernsehprogramm für Cineasten

Endlich geschafft, die Verwandtschaft wurde mit der Weihnachtsgans erfolgreich abgefüllt und die lieben Kleinen sind seelig mit ihren neuen Spielsachen im Arm eingeschlafen -- ein guter Zeitpunkt den Abend mit ein wenig Fernsehunterhaltung ausklingen zu lassen.

Doch oh Graus, wieder nur lauter Wiederholungen sattsam bekanter Action- und Comedy-Steifen (wer will denn wirklich zum tausendsten Mal Bruce Willis in "Stirb langsam" sehen?) und wenn dann doch mal eine "FreeTV Premiere" dabei ist, dann reißt sie einen i.d.R. nicht unbedingt vom Hocker. Die Lösung des Problems: Der Konsum von vielleicht weniger bekannten und neuen, aber dafür um so besseren Klassikern der Filmgeschichte. Hier eine kleine Empfehlungsliste für die Weihnachtsfeiertage:

24.12.

22:15 Uhr, "Loriot: Weihnachten bei Hoppenstedts", ARD
Inzwischen ist die Ausstrahlung dieser legendären Loriot-Folge am Heiligabend genauso zur Tradition geworden, wie "Dinner for One" am Silvesterabend. Ein absolutes Muß ;).

23:15 Uhr, "Weites Land (The Big Country)", 3sat
Da es unter dem Titel "Weites Land" gleich mehrere Filme in Deutschland gibt, muß festgehalten, daß es hier um "The Big Country" geht, einem Western-Klassiker aus dem Jahr 1958 mit Gregory Peck und Jean Simmons in den Hauptrollen. Ganz western-untypisch geht es inhaltlich um Konfliktlösungen ohne Gewalt -- doch keine Sorge, dies bedeutet nicht, daß es diesem epischen Streifen an Action mangelt.

23:25 Uhr, "EDtv", VOX
Eine bitterböse Mediensatire mit Woody Harrelson in einer Nebenrolle. Der Film ist eine unterhaltsame Abrechnung mit dem "Reality TV" und weist starke Ähnlichkeiten zur "Truman Show" auf, wobei Ed (Matthew McConaughey), der Hauptdarsteller in "EDtv", im Unterschied zu Truman immerhin weiß, daß er Bestandteil einer Reality Show ist.

00:00 Uhr, "God's Army -- Die letzte Schlacht", rtl2
Inzwischen ein echter Klassiker: Christopher Walken mimt den gefallenen Erzengel Gabriel auf einem gnadenlosen Rachefeldzug gegen Gott und die Menschheit. Der Plot ist mit Priesteranwärtern, Erinnerungen aus dem Koreakrieg und einem Showdown in einem Indianerreservat reichlich bizarr. Allein schon wegen Walkens Rolle als Gabriel, die ihm wie auf den Leib geschrieben zu sein scheint, dennoch ein wirklich sehenswerter Kult-Streifen.

00:20 Uhr, "Der Texaner (The Outlaw Josey Wales)", kabel1
Vermutlich einer der besten Western mit Clint Eastwood überhaupt. Eastwood spielt hier den knallharten und vereinsamten Ex-Soldaten Josey Wales, der im Bürgerkrieg auf Seiten der Südstaaten kämpfte und nach der Kapitulation einfach weitermacht, weil die Nordstaaten anders als zugesichert seine Kameraden niedergemacht haben und er außerdem im Krieg seine Familie verloren hat, folglich nichts mehr im Zivilleben hat, zu dem er zurückkehren könnte. Dies ändert sich erst auf seiner Flucht, bei der er nach und nach neue Freunde hinzugewinnt. Eastwood, der auch Regie führte, zeichnet ein düsteres Bild der Zustände in den USA unmittelbar nach dem Bürgerkrieg.

00:30 Uhr, "23 -- Nichts ist so wie es scheint", arte
Nach einer wahren Begebenheiten schildert der Film das Leben des deutschen Hackers Karl Koch (in absoluter Bestform: August Diehl), der in den 1980er in den ersten spektakulären Fall von Hacking in der BRD verwickelt war. Geprägt durch Verschwörungstheorien ("Illuminaten", "23", etc.) hackt er im Glauben an die Informationsfreiheit zusammen mit seinem Kumpel westliche Systeme und verkauft die Daten anschließend an den KGB. Dabei verfällt er zunehmend dem Kokain und seinen Wahnvorstellungen, kommt schließlich unter mysteriösen Umständen ums Leben. Inwieweit die Story wirklich am echten Leben von Koch dran ist, ist stark umstritten, der Film gibt aber sicherlich das "Lebensgefühl" der Hacking-Szene in den 80er Jahren glaubhaft wieder.

25.12.

14:00 Uhr, "Krieg und Frieden (War and Peace)", arte
Diese erste Verfilmung des gleichnamigen Romanklassikers von Leo Tolstoi durch King Vidor aus dem Jahr 1956 gilt zwar als nicht ganz so gut wie die zweite von Serhij Bondartschuk aus dem Jahr 1968, ist aber immer noch sehenswert. Zudem dauert sie "nur" 208 Minuten, während es die neuere auf schlappe 390 Minuten bringt. Die ausführliche Skizzierung der russischen Gesellschaft zur Zeit der napoleonischen Kriege ist sicherlich nichts jedermanns Sache, historisch aber sehr aufschlußreich.

22:45 Uhr, "Whale Rider", Bayern
Der Film handelt von dem 12jährigen Maori-Mädchen Pai(kea) in Neuseeland, das sich in einem harten Widerstreit mit ihrem Großvater über die Traditionen ihres Volkes hinwegsetzt. Eigentlich sollte ihr Zwillingsbruder die stets männliche Erbfolge des Stammes sichern, doch nachdem dieser bei der Geburt verstorben ist, macht sich Pai daran das erste weibliche Oberhaupt zu werden. Sehr zum Unwillen ihres Großvaters bei dem sie aufwächst und der versucht unter den Jungen des Dorfes ein neues Oberhaupt auszuwählen.

22:55 Uhr, "Léon der Profi -- Director's Cut", Pro7
Okay, ich schätze zu diesem Meisterwerk des französischen Regisseurs Luc Besson muß ich nicht mehr viel sagen, der Film sollte bekannt sein. Jean Reno spielt -- in der Rolle seines Lebens -- den emotionslosen Profikiller "Léon" der sich durch eine Verquickung unglücklicher Umstände mit der 12jährigen Mathilda (Natalie Portman) anfreundet und dabei in ein mörderisches Duell mit dem korrupten und psychopathisch-veranlagten DEA-Agenten Norman Stansfield (Garry Oldman) gerät.

00:10 Uhr, "The Golden Bowl", VOX
In dieser Verfilmung der gleichnamigen Novelle von Henry James geht es um eine Vierecks-Geschichte am Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen einer alten italienischen Aristokratendynastie und einer us-amerikanischen Industriemagnatenfamilie. Der verarmte italienische Fürst Amerigo (Jeremy Northam) liebt die ebenso mittelose Charlotte Stant (Uma Thurman), heiratet jedoch Maggie Verver (Kate Beckinsale), die Tochter des Industriemagnaten Adam Verver (Nick Nolte). Besagter Adam Verver heiratet durch einen Zufall dann jedoch Charlotte Stant, weshalb diese wieder mit Fürst Amerigo zusammenfindet, was sich dessen Frau Maggie jedoch nicht gefallen lassen will und um ihre Ehe kämpft. Eine brillant gespielte Beziehungsgeschichte, die VOX hier als deutsche FreeTV-Premiere zeigt.

00:15 Uhr, "Eine wahre Geschichte (The Straight Story)", ZDF
Starregisseur David Lynch erzählt die wahre Geschichte des 73jährigen Rentners Alvin Straight (Richard Farnsworth), der auf einem Rasenmäher zwei Bundesstaaten durchquert, um seinen Bruder Lyle zu besuchen, der einen Schlaganfall erlitten hat. Ein Roadmovie der ganz anderen Art, anrührend, langsam erzählt und ganz untypisch für Lynch sehr linear und schnörkellos inszeniert. Georg Seeßlen schreibt: "Jede Einstellung eine perfekte Komposition, jeder Übergang ein genau tariertes Wechselspiel, jedes Dialog-Stück ein poetisches Mini-Drama voller Anspielungen (ebenso auf religiöse und historische Motive wie auf Lynchs eigene Filme), Namen- und Wortspiele, komische Verknüpfungen (eine Idee, die in einer Dialogszene geäußert wurde, taucht in einer anderen unvermutet wieder auf)."

01:30 Uhr, "Citizen Kane", 3sat
Orson Welles' "Citizen Kane" aus dem Jahr 1941 gilt als einer der besten Filme der Filmgeschichte überhaupt. In Rückblenden wird die Lebensgeschichte des Medienmoguls Charles Foster Kane erzählt, dessen Figur stark an den us-amerikanischen Verleger und Medienzar William Randolph Hearst angelehnt ist. Hearst hatte alles daran gesetzt den Film zu torpedieren, da er sich zurecht in der Figur des Kane wiedererkannte -- was ihm nicht sonderlich gefiel. Denn Kane wird "als ein Mensch porträtiert, der im Laufe seines Lebens alle Ideale verrät und als machtversessener, kaltherziger Mann endet" (Wikipedia). Filmhistorisch kommt "Citizen Kane" eine besondere Bedeutung zu, da zahlreiche für die damalige Zeit revolutionäre Kamera-, Licht-, Schnitt- und Erzähl-Techniken zum Einsatz gebracht werden.

26.12.

20:15 Uhr, "Vertigo -- Aus dem Reich der Toten", VOX
Ein Klassiker von Alfred Hitchcock nach einer Romanvorlage von Pierre Boileau und Thomas Narcejac. Der unter Höhenangst leidende Polizist Scottie (James Stewart) quittiert den Dienst und soll für einen Freund auf dessen Selbstmord gefährdete Frau Madeleine (Kim Novak) aufpassen, kann deren Sprung in den Tod wegen seiner Höhenangst aber nicht verhindern. Jahre später lernt er Judy kennen, die Madeleine zum Verwechseln ähnlich sieht und wie sich herausstellt dann auch tatsächlich Madeleine ist. Scottie kommt einem Komplott auf die Spur... -- Vertigo gilt als einer der besten Hitchcock-Filme, war über Jahrzehnte nicht verfügbar und wird jetzt mit neuer (und umstrittener) Synchronisation frisch ausgestrahlt.

21:00 Uhr, "Doktor Schiwago (Doctor Zhivago)", arte
Ein weiterer Filmklassiker nach dem gleichnamigen Roman von Boris Pasterna. Während der Russischen Revolution spielend erzählt der Film die Geschichte des Dr. Yuri Zhivago (Omar Sharif), der zwischen zwei Liebesbeziehungen hin und hergerissen ist. "David Leans äußerst publikumswirksame Inszenierung schwelgt in monumentalen Stimmungsbildern und beeindruckt durch ihren langen Atem in der Abfolge lyrischer und dramatischer Momente." (Lexikon des internationalen Films, zitiert nach Wikipedia)

22:20 Uhr, "Scarface -- Toni das Narbengesicht", Das Vierte
In diesem 1983er Remake des gleichnamigen Klassikers von 1932 spielt Al Pacino den aus Kuba stammenden Kriminellen Toni Montana, der als Laufbursche eines einflußreichen Gangsterbosses in Miami zum Paten des Kokainhandels in den USA aufsteigt. Wegen seiner für damalige Verhältnisse noch exzessiven Gewaltszenen indiziert entwickelte sich der Streifen insbesondere in der HipHop-Kultur zum Kultstreifen (kein "Gangsta Rapper", der bei MTV Cribs nicht auf "Scarface" in seiner DVD-Sammlung verweist). Hauptvorwurf an den Film ist heute, daß er wie kein zweiter das Gangstertum glorifiziert, obwohl Regisseur Brian De Palma eigentlich veranschaulicht, wie Toni am eigenen Größenwahn und seiner Paranoia zu grunde geht.

23:30 Uhr, "Das Mädchen mit dem Perlenohrring (Girl with a Pearl Earring)", ZDF
Vermutlich das "weihnachtliche Highlight" was die diesjährigen FreeTV-Premieren im Fernsehen angeht, schade daß dieses Meisterstück vom ZDF soweit ins Spätprogramm verbannt wurde. Der Film von Peter Webber nach dem gleichnamigen Roman von Tracy Chevalier spielt im 17. Jahrhundert. Der berühmte Maler Jan Vermeer stellt die 16jährige Griet als Hausmädchen ein. Hochintelligent lernt sie von Vermeer den Umgang mit Farben und alles Wissenswerte über die Malerei. Schließlich sitzt sie ihm für ein Portrait Modell, was jedoch zu Konflikten "mit Vermeers Ehefrau, deren Tochter, der Schwiegermutter und der Magd" (Wikipedia) führt.

00:30 Uhr, "Das Mädchen Irma la Douce", WDR
Billy Wilder inszeniert hier 1963 eine auf einem Musical basierende Komödie mit dem damals noch recht jungen Jack Lemmon als übermotivierten Polizisten Nestor Patou. Nachdem eine von Patour veranlaßte Razzia in einem Bordell unangenehme Komplikationen mit sich bringt, fliegt er bei der Polizei raus und trifft beim Frustsaufen auf die Protituierte Irma La Douce (Shirley MacLaine) in die er sich verliebt und für die er nun den Zuhälter mimt -- ohne es natürlich zu sein. Er arbeitet nachts um ihr so viel Geld geben zu können, daß sie nicht mehr anschaffen gehen muß. "Bemerkenswerter Unterhaltungsfilm mit vielen Gags und einigen anrührenden Tiefen" (Lexikon des internationalen Films, zitiert nach Wikipedia).

01:30 Uhr, "Dem Himmel so fern (Far from Heaven)", RBB
Die Eheleute Cathy (Julianne Moore) und Frank Whitaker (Dennis Quaid) führen ein scheinbar perfektes, bürgerliches Leben in einer Vorstadt der 50er Jahre in den USA. Doch hinter der Fassade bröckelt es, Frank ist homosexuell und versucht vergeblich sich wegen dieser "Krankheit" behandeln zu lassen, während Cathy sich in den jungen Schwarzen Raymond Deagan (Dennis Haysbert) verliebt und damit in ihrer Umwelt zunehmend auf Ablehnung stößt. Regisseur Todd Haynes inszeniert in "Dem Himmel so fern" eindrucksvoll die Themen "Rassismus" und "Homosexualität" im Kontext der prüden und reaktionären 50er Jahre.

Donnerstag, Dezember 21, 2006

Mittwoch, Dezember 20, 2006

Lookism und Antilookism

In Berlin gibt es eine bis dato noch eher kleine, neue politische Bewegung die sich gegen den sogenannten "Lookism" richtet. Wikipedia definiert den Begriff wie folgt:

"Der Begriff Lookism wird in jüngster Zeit benutzt für die systematische Diskriminierung von Menschen, die nicht den vorherrschenden Schönheitsnormen entsprechen." (Wikipedia)

Während der Terminus in den USA schon bekannter ist, sagt er hierzulande nur sehr wenigen Eingeweihten etwas. Eine Gruppe von Aktivisten will dies nun ändern und bietet auf der Website lookism.info zahlreiche Informationen zum Thema. In der Jungle World, die sich mit zwei Aktivistinnen der Gruppe unterhalten hat, heißt es deutlicher hinsichtlich der Definition:

"Dabei umfasst der Begriff nicht nur Schönheits­normen, die den Körper betreffen, sondern auch die so genannte Körpergestaltung und die Kleidung. Aber sind Schminke und Kleidung nicht vor allem eine Privatsache? 'Wir denken, dass die Aussage, das Private sei politisch, mehr ist als ein veralteter feministischer Slogan. Wir wollen Macht­verhältnisse und Interdependenzen anhand des Diskurses über die Schönheitsnorm aufdecken, die ja mit nicht weniger bedeutsamen Normen verschränkt sind, z.B. mit den Bereichen Gender und Race', sagt die Gruppe in einer Stellungnahme. Ganz pragmatisch sehen es die beiden Frauen: 'Wenn jemand sich schminken will, soll er das tun. Wenn sich jemand schick anziehen möchte, soll er das tun. Aber das soll eben für alle gelten. Niemand sollte für die Wahl, die er für sein Äu­ßeres trifft, angemacht oder diskriminiert werden.'" (Jungle World, 13.12.06)

Auf der Website der Gruppe wird aber noch mehr Verwirrung gestiftet, da auch noch Begriffe wie "Ableism" (Diskriminierung von Behinderten), "Ageism" (Diskriminierung auf Basis des Alters), "Heightism" (Diskriminierung auf Basis der Körpergröße) fallen, die dann mit den schon eher bekannten Begriffen "Rassismus" und "Sexismus" in eine Reihe gestellt werden.

Und hier beginnt dann auch schon die Kritik an der Bewegung: Führen diese unter Umständen doch recht konstruierten Diskriminierungsformen nicht dazu, daß sich in letzter Konsequenz fast jeder als Opfer fühlen kann, weil fast jeder sich bei Bedarf einer der zahlreichen Gruppen von Diskriminierten zurechnen kann? Welche Auswirkungen hätte das auf "echte" Opfer? Die Aktivisten bestreiten neue Opfergruppe zu konstruieren:

"Es fällt dennoch schwer, den Zusammenhang zwischen Angriffen auf dunkelhäutige Menschen, Gewalt an Frauen und Witzeleien über große Füße herzustellen. So wolle man die Feststellung auch nicht verstanden wissen, sagt die Frau aus dem 'Projekt L': 'Uns geht es nicht darum, Lookism auf eine Stufe mit Sexismus oder Rassismus zu stellen. Dennoch würde ich nicht behaupten, dass individuelle Leiderfahrungen aufgrund von Lookism weniger schlimm sind als z.B. sexistische Diskriminierungen. Magersucht hat zwar viele Gründe, die vor allem in den Erlebnissen in der Kindheit zu suchen sind. Wenn man Magersucht aber als Resultat von Lookism betrachten will, könnte man ebenfalls sagen: Es kann tödlich enden.

... Dass Lookism eine recht beliebige Angelegenheit sei und jedem und jeder die Möglichkeit gebe, sich als Opfer einer Diskriminierung zu füh­len, bestreiten die beiden Antilookistinnen: 'Wir wollen sicherlich keine neuen Opfer schaffen. Wir wollen die Leute anregen, darüber nachzuden­ken, in welchen Situationen man selbst andere Menschen wegen ihres Äußeren diskriminiert. Insgesamt gesehen ist Lookism aber selbstverständlich ein sehr weitläufiger Komplex.'" (Jungle World, 13.12.06)

Um die Problematik stärker in die Öffentlichkeit zu tragen hat das "Projekt L" unter anderem die sogenannte "Fight-Lookism-Kampagne" ins Leben gerufen. Dabei wird Disneys klassisches Schneewittchen-Motiv wahlweise mit einer Kalashnikov, tätowiert, dick oder mit Bart als Streetart in Form von Aufklebern und als Pochoirs (Schablonen-Grafitti) mit der Bildunterschrift "Wer ist die Schönste im ganzen Land?" im öffentlichen Raum platziert.


Pochoir zur Fight-Lookism-Kampagne in Berlin. Quelle: Indymedia, Creative Commons Lizenz.

In seinem Bestseller "Das Methusalem-Komplott" beschreibt FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher wie alte Menschen in Deutschland systematisch diskriminiert werden -- und das obwohl diese Gruppe der "alten Menschen" die in Deutschland (und anderen westlichen Industrienationen) am schnellstwachsende Bevölkerungsgruppe ist, deren Erfahrungswerte nach Schirrmacher ökonomisch brach liegen. In einer der kontroversesten Stellen des Buches stellt er dann die Diskriminierung der Alten mit Rassismus auf eine Stufe, indem er von "Altersrassismus" schreibt.

Schon damals (2004) wurde erhitzt debattiert, inwiefern die ja nicht zu bestreitende Diskriminierung von alten Menschen tatsächlich im Zusammenhang mit "Rassismus" genannt werden könne. Unabhängig davon, ob "Rassismus" und "Altersdiskriminierung" zwei "Phänomene" gleicher Rankordnung sind, stellt sich aber grundsätzlich schon die Frage, warum eine Gesellschaft die sich gegen die Diskriminierung auf Basis des Geschlechts und der ethnischen Zugehörigkeit ausspricht, nicht auch gegen die Diskriminierung auf Basis des Alters oder auf Basis des äußeren Erscheinungsbildes vorgehen sollte.

Wenn etwa der SPD-Vorsitzende Kurt Beck dem Arbeitlosen Henrico Frank sagt, er solle sich erst mal "waschen und rasieren", dann würde er schon einen Job finden, ist das dann Diskriminierung (jetzt mal losgelöst von der Tatsache, daß auch "rasierte und gewaschene" Arbeitslose nicht so ohne weiteres einen Job finden)? Sicherlich ist ein gepflegtes Äußeres in vielen Fällen Voraussetzung, um einen Job zu bekommen. Nur gerade hier stellt sich eben die Frage, ob man diesen Zustand mit einem "das ist eben so" abhakt und darauf verweist, daß Mensch sich an diese Gesellschaftsnorm hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes eben anzupassen habe oder ob man das kritisch hinterfragt und dagegen aufbegehrt.

Für die Initiatoren des "Projekts L" scheint sich diese Frage insofern gar nicht zu stellen, als daß man bei genauerer Betrachtung ihrer Website (lookism.info) den Eindruck bekommt, sie denken nicht unbedingt an weiße, heterosexuelle Männer, wenn sie von den Opern des "Lookism" reden. So als ob der untersetzte Büroangestellte mit Halbglatze nicht ebenfalls unter den vorherrschenden Schönheitsnormen zu leiden hätte, wenn er aufgrund von seiner äußeren Erscheinung ausgegrenzt wird.

Von Polylux fühlt sich die Bewegung nach Angaben von Jungle World falsch dargestellt. Dort ist in einem Beitrag die Rede von "die Häßlichen erheben ihre Häupter" und "Rechte der Häßlichen", was dann halt nach "Aufstand der Hackfressen" klingt. Impliziert wird bei dieser Wortwahl, daß sich ohnehin nur Menschen gegen "Lookism" einsetzen, die dem allgemeinen Schönheitsideal selbst nicht entsprechen (was dann aber später im Beitrag in anderer Richtung klargestellt wird):



Als Gegenbeispiel dienen den polylux-Autoren Spitzenpolitiker. Diese sein nun in der Regel wahrlich keine Schönheiten, hätten es aber auch nach "oben" geschafft, was dann eben als Beleg dafür gelten kann, daß die Schönheitsnormen eben doch nicht so dominant sein können. Andererseits ist das Beispiel der Antilookism-Aktivisten mit den Bewerbungsfotos sicherlich treffend (und auch empirisch belegt): Nicht selten wird der Bewerber schon anhand des Fotos aussortiert, Personen mit Akne oder Hamsterbacken haben dann eben z.B. deutlich weniger Chancen überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, als solche mit reiner Gesichtshaut und markanten Gesichtszügen.

Das Problem existiert, nur ob es sich wirklich durch Streetart-Aktionen oder etwa einem festgelegten Mindest-Body-Mass-Index für Models auf dem Laufsteg (wie zuletzt in Spanien und Italien) lösen läßt? Vermutlich können weder solche Grundsatzerklärungen noch subversive Kunst die Massenbewegung einem bestimmten Schönheitsideal (mitsamt den zahlreichen negativen Folgen für die Gesellschaft) hinterher zu hecheln stoppen.

Dienstag, Dezember 19, 2006

Montag, Dezember 18, 2006

Bild und RTL -- Bohlens beste Freunde

"Vielleicht kann man sich in die Lage Bohlens nicht hineinversetzen, wenn man noch nie mit einer Waffe bedroht wurde; wenn einem noch nie 60.000 Euro in bar gestohlen wurden; wenn man noch nie vor der Frage stand, wie man in einer solchen Situation handeln soll: die Ruhe bewahren, Widerstand leisten oder davonlaufen. Vielleicht ist es nach einem solchen Schock eine ganz natürliche Reaktion, das Fernsehen anzurufen und die größte deutsche Boulevardzeitung. Und dennoch kommt man nicht darum herum, sich zu fragen, wie kaputt eigentlich ein Mensch sein muß, der überhaupt nicht nachdenkt, bevor er die mediale Aufbereitung seines Schicksals einleitet; der nicht erst ein paar gute Freunde anruft, mit denen er die Sache bespricht. Was aber das allertraurigste ist: Genau das hat Bohlen wohl getan - vom Nachdenken einmal abgesehen. Die 'Bild'-Zeitung und RTL: Das sind seine besten Freunde." (Harald Staun)

Freitag, Dezember 15, 2006

Donnerstag, Dezember 14, 2006

EU-Kommissar Günter Verheugen -- Ein Nackedei auf Abwegen?

Es gibt plumpe und subtile Versuche, einen Politiker aus dem Amt zu schreiben. Die Variante im Fall des EU-Kommissars Günter Verheugen ist schlicht weg dreist.

Es geht um Fotos von Verheugen die ihn nackt an einem FKK-Strand mit seiner Kabinettschefin Frau Erler zeigen sollen. Der Focus ist angeblich im Besitz dieser Bilder, traut sich aber nicht sie zu veröffentlichen. Was die Bild-Zeitung nicht davon abhält, mit diesen imaginären Fotos Schlagzeilen zu machen. Doch der Reihe nach, die ganze Geschichte begann bereits im Sommer:

"Die crossmediale Zusammenarbeit der ungleichen Blätter hatte schon einmal im Sommer funktioniert, ohne allerdings das erhoffte Ergebnis zu erreichen. Damals veröffentlichte Bild Bilder des urlaubenden Verheugen. Sie zeigten den Kommissar Händchen haltend mit seiner Kabinettschefin in Litauen. Die FAZ und einige wenige andere Blätter woben daraus den Vorwurf der Günstlingswirtschaft. Insinuiert wurde, dass Verheugen Frau Erler nur auf den hohen Brüsseler Posten berufen habe, weil er ein Verhältnis mit ihr unterhalte. Beide bestreiten dies bis heute nachdrücklich." (ZEIT online, 08.12.06)

Es gab also damals schon Fotos, die Verheugen mit Frau Erler zusammen im Urlaub zeigten -- damals noch bekleidet. Der Vorwurf, Erler sei seine Geliebte und habe ihren Posten aufgrund dieser Tatsache bekommen, ließ sich nicht belegen. Jetzt legte Focus nach und kündigte an, weitere Bilder zu haben, die Verheugen nackt mit Erler an einem FKK-Strand in Litauen zeigen.

Das Problem des Focus: Er kann die Bilder nicht so ohne weiteres veröffentlichen, da sie die Intimsphäre des Politikers betreffen:

"Frau Erler badet gern nackt. Herr Verheugen normalerweise eher nicht. Sind solche Ganzkörper-Fotos im öffentlichen Interesse? Beweisen sie etwas? Und: Was haben EU-Beamten damit zu? Verheugen hat sich in Brüssel viele Feinde gemacht, als er öffentlich über zu viel EU-Bürokratie klagte.

Der Mann, der einst mal Volontär beim Regionalblatt NRZ war, müht sich seit einer Woche, mit Gerichtshilfe die Publizierung der Nackt-Bilder definitiv zu untersagen; bislang wird nur gedroht. In der Rechtsprechung gehört der nackte Körper zur Intimzone. Als vor einem Jahrzehnt heimlich geschossene Fotos einer Schauspielerin erschienen, sah das Hamburger Oberlandesgericht 'eine schwerwiegende Verletzung es Persönlichkeitsrechts'." (Süddeutsche Zeitung, 08.12.06)

Der Focus beläßt es also bis dato dabei mit der Veröffentlichung der Nacktfotos nur zu drohen. Denn legitim wäre deren Veröffentlichung erst, wenn damit bewiesen werden könnte, daß Frau Erler durch ihre persönliche Beziehung zu Verheugen an ihre Position gekommen ist. Genau diese Beweiskraft wohnt den Bildern aber eben nicht inne. Verheugen und Erler betonen nur Freunde zu sein, Verheugens Frau sagt von dem gemeinsamen Urlaub ihres Mannes mit seiner Kabinettschefin gewußt zu haben. Die Bilder bieten Möglichkeit so einiges hineinzuinterpretieren, beweisen tun sie nichts:

"Grundsätzlich ist an einem FKK-Strand das Fotografieren durch Dritte sowieso tabu. Und auch wenn Verheugen eine Person der Zeitgeschichte sein sollte, ist sein Recht auf Privatsphäre durch das Presserecht geschützt. Nackt ist eindeutig privat. Eine Veröffentlichung kann also nur erfolgen, wenn den Fotos politische Relevanz beigemessen werden könnte." (taz, 09.12.06)

Die Tatsache, daß der Focus mit einer Schlagzeilen von Fotos aufmacht, die er gar nicht veröffentlicht, die Bild dann mit einer Story darauf verweist, Focus hätte solche Bilder und die FAZ ebenfalls auf den Zug aufspringt, wird in der linken Presse -- zurecht -- als Skandal gebrandtmarkt. In der taz faßt man den Sachverhalt wie folgt zusammen:

"Zum Mitschreiben: Der Focus bringt Fotos nicht auf den Markt, wartet die 'Entwicklung' der 'Causa' ab, um dann auf der Grundlage einer Entwicklung, die man durch nichtpublizierte Fotos initiiert hat, zu entscheiden, ob man die Fotos publiziert. Oder ob man sie nun publizieren kann. Das - und das Pingpong mit Bild - hat eine ganz neue Qualität." (taz, 09.12.06)

Die taz reagierte auf ihre ganz eigene Art, in dem sie mit einem Titelblatt aufmachte, daß Kai Diekmann (Bild) und Helmut Markwort (Focus) in einer gemeinen Fotomontage nackt am Strand zeigte, Titel: "Focus-Chef Markwort und der bildhübsche Kai -- Mehr als nur Kollegen?"

Montag, Dezember 11, 2006

"Wheelchair Service Included!"

Während alle Welt die Probleme einer zu einseitigen, fett- und kalorienreichen Ernährung diskutiert und sich der eine Teil der Menschheit versucht besser zu ernähren während der andere Teil bemüht ist sich seine schlechte Ernährung schön zu reden bzw. das Problem zu verdrängen, stellt man beim Restaurant "Heart Attack Grill" die ungesunde Ernährung ganz bewußt in den Vordergrund. Ungefähr nach dem Motto, sterben müssen wir doch alle mal, warum dann nicht in einem Burgerladen bei einem Overkill an Fleisch? Wenigstens hat's dann geschmeckt.

Schlappe 8.000 Kalorien und 4 Patties bringt der "Quadruple Bypass Burger" auf die Waage, den das im US-Staat Arizona beheimatete Ausnahme-Restaurant auf der Speisekarte hat. Für Weicheier gibt es alternativ auch noch den "Single, Double oder Triple Bypass Burger". Dazu gibt es Pommes ("fried in pure LARD!"), Bier und eine Packung Zigaretten.

Falls es doch mal ernst wird mit dem Herzinfarkt, gibt es sogar einen "Wheelchair Service" und eine zumindest auf der Website sehr adrett aussehende Truppe von Krankenschwestern (die sich bei ihren Figuren vermutlich selbst nur selten einen Burger gönnen können). Wobei man auf der Website sicherheitshalber auch betont, daß es sich hier nicht um echte Krankenschwestern handelt. Schade eigentlich, krank werden wäre viel angenehmer.

Marketing-technisch ist diese Werbung ein genialer Schachzug gewesen, weltweit wurde über das Restaurant berichtet, in Deutschland widmeten unter anderem Spiegel Online und sogar Die Welt der Story jeweils einen kleinen Artikel. Auch in den rtl2-News durfte so eine Top-Story natürlich nicht fehlen :p.

Sollte es mich jemals mal nach Tempe, Arizona verschlagen, werde ich da auf jeden Fall was essen :D.

Sonntag, Dezember 10, 2006

What the f... is studiVZ?

Die zumeist englischsprachigen Nutzer der Blog-Suchmaschine Technorati waren verwirrt, als der Begriff "studivz" sich wochenlang auf den ersten drei Plätzen der "Top Searches" hielt und schließlich nur von Britney Spears (und ihren Unten-ohne-Unfällen) abgedrängt werden konnte. studiVZ? What the f... is studiVZ?

Nun, "studiVZ" ist die Abkürzung für "Studiverzeichnis" einem bei der deutschen Studentenschaft beliebten Kommunikationsportal. Gegründet wurde es von Ehssan Dariani, der sich die Idee vom amerikanischen Pendant "Facebook" abgeschaut hatte. Facebook gehört ebenso wie das bekanntere MySpace zu den sogenannten "Sozialen Netzwerken" im Internet, denen im noch andauernden "Web 2.0"-Hype eine zentrale Stellung zukommt. Im Unterschied zu MySpace handelt es sich bei Facebook bzw. studiVZ allerdings um Netzwerke speziell für Studenten.

Das mit diesen "Sozialen Netzwerken" gutes Geld zu machen ist, hat unlängst der Börsengang des Business-Portals "XING" (ehemals "openBC") bewiesen, eigenen Angaben zufolge fließt dem Unternehmen dadurch aus einer Kapitalerhöhung um 1,35 Millionen Aktien ein Nettoemissionserlös in Höhe von rund 35,7 Millionen Euro zu (heise newsticker, 07.12.06). Abzuwarten bleibt natürlich, wie sich der Kurs entwickelt. Aber es gibt ja auch noch andere Möglichkeiten, MySpace etwa wurde im Juli 2005 vom Medienmogul Rupert Murdoch für 580 Millionen US-Dollar gekauft (Wikipedia), im Oktober 2006 ließ sich Google die Übernahme des beliebten Videoportals YouTube sogar umgerechnet 1,31 Milliarden Euro kosten (Wikipedia). Der Gang an die Börse ist für viele dieser neuen Web-2.0-Unternehmen nur der erste Schritt, das langfristige Ziel lautet bei einer Übernahme durch einen "Big Player" den großen Reibach zu machen.

Und auch für studiVZ sah zunächst alles ganz gut aus, erst im November 2005 gegründet konnte man schon ein Jahr später über eine Million Mitglieder vorweisen (Wikipedia). Inwieweit sich darunter Doppel- bzw. Nichtstudi-Anmeldungen befinden weiß natürlich keiner genau. Eine Million registrierte Studierende würde bedeuten, daß sich schon jeder zweite Student in Deutschland einen Account bei studiVZ zugelegt hat, was als doch etwas zu hoch gegriffen erscheint. Richtig ist aber sicherlich, daß studiVZ in einem relativ kurzen Zeitraum rasant gewachsen ist.

Doch mit diesem rasanten Wachstum begannen auch die Probleme, denn die technische Infrastruktur wuchs nicht in der nötigen Geschwindigkeit mit, immer wieder kam es zu längeren Ausfällen des Portals. Darüber hinaus bekam der Gründer von studiVZ, Ehssan Dariani, zunehmend Image-Probleme. So fiel er negativ dadurch auf, daß er selbstgedrehte Videos von Frauen unter anderem von einer Party-Toilette ("chick auf mitte party // WC") bei studiVZ publizierte. Weiterhin sicherte er sich die Domains voelkischer-beobachter.de und voelkischerbeobachter.de, um auf diesen Seite mit Nazisymbolik für eine Party zu werben. Das sei "Satire" gewesen, betonte er anschließend (SPON, 15.11.06).

Der Blogger Robert Basic hatte darüber hinaus bereits Anfang November eine fragwürdige Geschäftspraktik von studiVZ aufgedeckt: die studiVZ-Macher betätigten sich als Domaingrabber, indem sie Domains registrierten, die vom Namen her eigentlich den studiVZ Konkurrenten "StudyLounge" und "Unister" zuzurechnen gewesen wären (Basic Thinking, 01.11.06). Auch sah sich studiVZ dem Verdacht ausgesetzt, kritische Stimmen innerhalb der eigenen Community durch ein repressives Regelwerk mundtot machen zu wollen. So hieß es noch vor kurzem bei studiVZ: "Folgende Gruppen akzeptieren wir nicht: Gruppen, die Kritik am StudiVZ ausüben; Gruppen, die wir nicht mögen; Gruppen für Meinungs- und Rezeptionsfreiheit" (zitiert nach: SPON, 15.11.06).

Endgültig im freien Fall und im Zentrum einer negativen Berichterstattung in der Blogosphäre befand sich studiVZ dann nach der Veröffentlichung eines Artikels des einflußreichen Bloggers (und ehemaligen Dotcomtod-Mitglieds) "Don Alphonso". Alphonso thematisierte den auf StudiVZ grassierenden Sexismus in Verbindung mit massiven Problemen im Datenschutz (blogbar, 23.11.06). So wies er auf eine Gruppe mit 700 Mitgliedern hin, die mit den Fotos von Studentinnen Misswahlen veranstalteten, ohne daß diese von ihrem "Glück" etwas wußten. Die Siegerin wurde dann von der gesamten Gruppe aus Stalkern kollektiv auf ihrem Profil "gegruschelt", einem studiVZ internen Begriff der für eine Mischung aus "kuscheln" und "begrüßen" steht, und faktisch eine Form von Anmache / Flirten meint.

Die ausschließlich männlichen Mitglieder der "Stalker Gruppe" machten sich bei ihren "Misswahlen" eine Sicherheitslücke im System zu nutze, die es ihnen erlaubte die Bilder der "Kandidatinnen" direkt in ihre Gruppe einzubinden, wie Don Alphonso dokumentierte. Als wäre das nicht genug, wurden weitere Realdaten der Studentinnen weiter verbreitet, wie etwa der volle Klarname oder sogar die Anschrift. Der Skandal bekam dann noch mal eine ganz neue Dimension als herauskam, daß einer der Mitgründer von studiVZ von diesen Vorgängen Kenntnisse hatte, aber dagegen nicht einschritt, sondern sich im Gegenteil bemühte selber Mitglied der besagten "Stalker Gruppe" zu werden (SPON, 27.11.06).

Ende November, Anfang Dezember erschienen dann in der Blogosphäre immer wieder Berichte über neue Sicherheitslücken, die es auch erlaubten Daten einzusehen, die für Dritte eigentlich nicht zugänglich sein sollten. Neben Don Alphonso war es besonders Jörg-Olaf Schäfers, der in seinem Blog immer wieder auf neue Sicherheitsprobleme bei studiVZ hinwies. Nachdem dann schließlich noch ein Wurm eine XSS-Lücke ausnutze, ging das Portal endgültig offline (heise Security, 03.12.06). Fünf Tage dauerte die Auszeit, erst dann war studiVZ wieder online (heise Security, 06.12.06).

Um den ramponierten Ruf wieder herzustellen, ergriffen die Macher von studiVZ einige Gegenmaßnahmen. So forderten sie die Nutzer auf, an einem neuen Verhaltenskodex mitzuwirken, damit Fehlverhalten von Mitgliedern in Zukunft ausgeschlossen werden könne (heise newsticker, 28.11.06). Weiterhin lobte man zunächst 128 Euro später 256 Euro Belohnung für jede gefundene Sicherheitslücke aus (heise Security, 30.11.06). Nach Protesten einen solchen "Hacker-Wettbewerb" auf einem System mit echten Benutzerdaten durchzuführen, ruderte studiVZ zurück und stellte stattdessen ein paralleles Testsystem mit Dummydaten zur Verfügung.

Ob es studiVZ gelingen wird, sich von dem erlittenen Image-Schaden noch einmal zu erholen, wird in der Blogosphäre kontrovers diskutiert. Fakt ist, daß inzwischen sogar der AStA der FU Berlin und der ReferentInnenrat der HU Berlin in Presserklärungen vor studiVZ warnen und den Studenten raten, ihre Accounts bei dem Portal zu löschen. Auch der "freie zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs)" hat von seiner geplanten Zusammenarbeit mit studiVZ inzwischen wieder Abstand genommen (YAMB.BETA², 07.12.06).

Parallel dazu haben sich satirische Websites wie "frickelVZ" gebildet, die die Skandale um studiVZ persiflieren. Auf "pennerVZ" kann der Arbeitslose von heute ebenfalls in ein "Soziales Netzwerk" eintreten. Die studiVZ-kritische Seite "studiVZBoykott" wurde dagegen schon wieder aus dem Netz genommen.

Weiterführende Links zur Skandalserie um das "studiVZ":

- Einträge bei Technorati
- Einträge bei blogbar (Don Alphonso)
- Einträge bei YAMB.BETA² (Jörg-Olaf Schäfers)
- Einträge im heise newsticker

Samstag, Dezember 09, 2006

P-F-A-R-M-E-R

"...

'In welcher Position haben Sie bisher gearbeitet?'

Ich sage: Projektmanagement.

Leider gibt es die Bezeichnung in ihrem Computersystem nicht. Ich schlage vor: Nehmen Sie Marketing, und denke, dass dies ja doch eine sehr häufig verwendete Bezeichnung ist. Da wird sich doch wohl etwas im System finden lassen wird.

Der Computer gibt mir recht und spuckt an die dreißig Vorschläge aus. Ich soll die Stellenbeschreibung wählen, die am besten zu meiner jetzigen passt. Ich will aber nicht wählen, die Vorschläge sind alle viel zu speziell und keiner trifft meinen bisherigen Aufgabenbereich.

Schließlich sage ich: Schreiben Sie Produktmanagement, das umfasst alles.

Das gibt es dann tatsächlich und so finden wir meinen bisherigen Beruf nach einer guten Viertelstunde.

'In welcher Branche waren Sie denn?'

Ich sage Pharma und sehe entsetzt zu, wie die Bearbeiterin meines Vertrauens 'P-F-A-R-M-E-R' in die Suchmaske eingibt. Ich schwanke zwischen Lachen und entsetztem Aufstöhnen, verkneife mir jedoch beides und warte ab, was der Computer dazu zu sagen hat. Ob der vielleicht mit einer automatischen Rechtschreibkorrektur ausgestattet ist? Ist er nicht.

Ich sehe zu, wie die Dame noch mehrere Versuche unternimmt, bevor ihr der Gedankenblitz kommt und sie ihre Eingabe in 'P-H-A-R-M...' ändert.

Warum ich nichts sage? Ich stehe unter Schock und denke gleichzeitig: Das kann sich nun wirklich niemand ausdenken!

..."

aus: Juliane Hartig, "Vor der Tür", Der Tagesspiegel, 08.12.06

Freitag, Dezember 08, 2006

Same procedure as every amok run

Seit dem glücklicherweise noch verhältnismäßig glimpflich ausgegangenen Versuch eines Amoklaufs in Emsdetten (Wikipedia) (es gab bis dato keine Toten), kommt der Begriff nicht mehr aus den Medien: "Killerspiele".

Zwar wurde von der Staatsanwaltschaft "allgemeiner Lebensfrust" als Motiv genannt und der Täter, Sebastian B., hat einen recht ausführlichen Abschiedsbrief hinterlassen (Telepolis, 21.11.06), in dem er seine Beweggründe schildert -- im öffentlichen Diskurs dominierten dennoch schnell wieder die jetzt so getauften "Killerspiele" als DIE Ursache für eine solche Tat schlecht hin.

Statt sich Gedanken darüber zu machen, was die tatsächlichen Gründe für eine solche Irrsinnstat sein können, wälzten sich die Politiker wie immer in solchen Fällen im puren Aktionismus und forderten ein Verbot der "Killerspiele". Niedersachsens Innenminister, Uwe Schünemann (CDU), kündigte eine Bundesratsinitiative zum Verbot gewaltverherrlichender Computerspiele an (heise newsticker, 21.11.06), der bayrische Innenminister Günther Beckstein (CSU) preschte sogar gleich mit einem Gesetzesentwurf vor (SPON, 05.12.06) und bekam als er dafür kritisiert wurde durch den brandenburgischen Innenminister, Jörg Schönbohm (CDU), Schützenhilfe (SPON, 06.12.06).

Same procedure as every amok run. So sah es zunächst aus, doch anders als sonst gingen die aktionistischen Vorschläge diesmal nicht ganz so schnell wieder unter. Grund dafür war auch ein für den 06.12. im Internet angekündigter weiterer Amoklauf in Baden-Württemberg. Das Kultusministerium reagierte panisch und warnte öffentlich einfach alle Schulen, weil es nicht wußte, welche konkret das Ziel sein sollte (SPON, 06.12.06). Der Effekt waren eine Massenhysterie in Baden-Württemberg und Trittbrettfahrer am Folgetag, die sich einen Jux daraus machten im Internet nicht ernstgemeinte Ankündigungen zu verbreiten (SPON, 07.12.06).

Der ursprüngliche "Nikolaus"-Amokläufer hatte seine Tat beim Counter-Strike spielen angekündigt. Ein zunächst als Zielperson ausgemachter 18jähriger Selbstmörder erwies sich jedoch nicht als Täter. Begründung der Ermittler: Auf seinem Computer konnten weder Hinweise auf einen geplanten Amoklauf noch "Killerspiele" festgestellt werden (SPON, 07.11.06).

Wie selbstverständlich wird heute immer eine Kausalität zwischen Amokläufern und "Killernspielen" als gegeben angenommen. Bei Wikipedia können wir jedoch nachlesen:

"Bisher ist ein eindeutiger wissenschaftlicher Beweis, dass Computerspiele einen immer gleichen, konstant negativen Einfluss auf den Konsumenten haben, ausgeblieben. Mittlerweile gibt es einen dritten, weitaus komplexeren Ansatz, nämlich, dass die Auswirkungen der Gewalt in Computerspielen vom konsumierenden Individuum bzw. seiner sozialen Situation abhängen. Diese These postuliert, dass ein familiär und sozial, d.h. freundschaftlich gebundener Mensch, der idealerweise auch mit Beruf, Ausbildung oder Schule zufrieden ist, viel eher allein aus dem Unterhaltungswert eines Computerspiels Nutzen zieht, als ein isolierter, unzufriedener Spieler, der eher am Aspekt der Brutalität eines Spiels Gefallen findet." (Wikipedia)

Es gibt also keinen empirischen Beweis für die These, daß der Konsum von gewaltverherrlichenden Spielen, einen negativen Einfluß auf die Konsumenten hat. Wenn jemand ohnehin psychisch labil ist, ein gewaltaffines Verhalten aufweist, dann ist er natürlich gefährdet sich durch solche Spiele noch weiter in seinen Wahn zu steigern. Die Masse der Jugendlichen die solche "Killerspieler" konsumiert mutiert aber eben nicht zu Amokläufern.

Das Spielen des beliebten Ego-Shooters Counter-Strike ist inzwischen zum Volkssport geworden (SPON, 02.12.06). Gute Spieler verdienen in Turnieren damit ihren Lebensunterhalt, "E-Sport" zählt inzwischen zu den vier mitgliedstärksten Vereinssportarten Deutschlands (polylux, 07.12.06). Auch wenn zu "E-Sport" natürlich nicht nur Ego-Shooter wie Counter-Strike zu zählen sind, wächst die Szene kontinuierlich. Counter-Strike verbieten zu wollen kommt der Idee gleich, Volleyball verbieten zu wollen.

Und selbst wenn Counter-Strike und andere "Killerspiele" verboten wären, was würde das ändern? Die Turniere würden im Ausland stattfinden, die Kids sich die Spiele aus dem Internet organisieren, potentielle Gewalttäter bei Bedarf auch weiterhin einen Zugang zu den Spielen finden. Die tatsächlichen Ursachen für das Durchdrehen der Amokläufer wären weiterhin nicht analysiert, das Problem bliebe weiterhin bestehen.

Besonders bizarre Früchte trägt die Panikmache in den Medien inzwischen in einem ganz anderen Fall: In Cottbus hat ein 19jähriger gestanden, einen Obdachlosen umgebracht zu haben. Als Grund nannte er unter anderem beim Computer spielen ständig verloren zu haben. Sein Spiel der Wahl war allerdings nicht ein typisches "Killerspiel" bei dem man andere Figuren umbringen muß, sondern "SmackDown vs. Raw", ein Wrestling-Spiel. Der Hirnforscher und Gewaltspiele-Kritiker Manfred Spitzer will nun ein Gutachten vorstellen, indem es um die Frage geht, ob "das Spielen solcher Computerspiele Einfluss auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten haben könnte" (SPON, 07.12.06). Milderne Umstände aufgrund des Konsums gewaltverherrlichender Computerspiele? Wo führt das hin? Wenn es nach Spitzer geht vermutlich in ein Totalverbot.

Statt eines Verbots sollte lieber die Frage eines verantwortungsvollen Umgangs mit gewaltverrlichenden Spielen diskutiert werden. Zu so einem verantwortungsvollen Umgang würde z.B. auch gehören, daß die Eltern ihren Sprösslingen öfter über die Schulter gucken, was die da eigentlich spielen und den Konsum ggf. einschränken. Vielleicht sollte man sich auch generell intensiver mit der Frage beschäftigen, wie sich diese Amokläufer ihrem Umfeld aus Freunden und Familie derart entziehen konnten.

Da der exzessive Konsum solcher Spiele zudem nicht der eigentliche Grund für die Amoktaten ist, muß auch allgemein einfach mehr in der psychologischen Betreuung von Jugendlichen getan werden. Andiskutiert wird in diesem Kontext auch immer wieder die Etablierung eines Schulpsychologen in jeder Schule. Gleichwohl man am Beispiel der USA sehen kann, daß auch dies nicht der Weisheit letzter Schluß sein kann.

Das Problem auf sog. "Killerspiele" zu reduzieren, deren Verbot dann entscheident zur Verhinderung solcher Taten beitragen soll ist dagegen nicht nur naiv, sondern auch fatal. Denn Scheindiskussionen verhindern immer, daß der eigentliche Kern des Problems angegangen werden kann.

Freitag, November 24, 2006

In Reihenhausansammlungen wird nicht Amok gelaufen!

"Wer einmal das münsterländische Emsdetten besuchte, könnte zu der Einsicht gelangt sein: Emsdetten an sich ist Grund genug, dass einer um sich schießt. Aber das kommt nicht gut an; zu viele Menschen in Deutschland leben in genau solchen mausetoten Kleinkaffhöllen, nennen sie Idylle und sind zutiefst schockiert, fassungslos und alles, wenn einer, der bei der Heileweltveranstaltung nicht erfolgreich mitmachen kann oder darf, nicht so mediterran entspannt reagiert, wie das für Deutsche seit der Fußball-WM 2006 ja Pflicht ist. Also gilt: In Reihenhausansammlungen wie Emsdetten wird nicht Amok gelaufen! Das macht man in Berlin oder anderen Verderbnispfuhlen, das können dann alle befriedigt abnicken und sagen: Großstadt, ja klar, da passiert so was, da sind ja alle krank, nicht so wie wir, die kerngesunden Kleinstädter, bramm bramm bramm." (WIGLAF DROSTE)

Samstag, November 18, 2006

Gone Daddy Gone



Das neueste Video von Gnarls Barkley zum Song "Gone Daddy Gone" (der ursprünglich von den Violent Femmes geschrieben wurde). Das Video stammt von Chris Milk. Auch das alte Original-Video von den Femmes aus dem Jahr 1982 findet sich übrigens bei YouTube. Damals wie heute fällt der Sound besonders durch den Xylophon-Einsatz auf (oder ist es doch ein Metallophon?).

Zur Handlung des aktuellen Videos: Eine Band bestehend aus ein paar Flöhen stürzt vom Hund auf den Teppich und der Leadsinger-Floh (der wohl Cee-Lo Green darstellen soll) verliebt sich in eine Hausfrau-Blondine. Die Band verfolgt die Blondine in die Küche und versucht dort ihr Bein zu erklimmen, wird jedoch erwischt und mit einer Chemiekeule bearbeitet. Bevor auch der Leadsinger-Floh vom Spray dahingerafft wird, verschafft die Inhalation ihm noch einen letzten Trip und er wähnt sich beim Coitus mit seiner Angebeteten. Absolut strange *lol*.

Freitag, November 17, 2006

Wikipedia in der Defensive

"Aber was, wenn da etwas Schwerwiegendes über jemanden behauptet wird, und er kann sich nicht so ohne weiteres Gehör verschaffen? Schnell wird der Einzelne Opfer des Mobs; die Gefahr von Wiki-Lynchjustiz halte ich für sehr real. In der Wikipedia-Welt bestimmen jene die Wahrheit, die am stärksten besessen sind. Dahinter steckt der Narzissmus all dieser kleinen Jungs, die der Welt ihren Stempel aufdrücken wollen, ihre Initialen an die Mauer sprayen, aber gleichzeitig zu feige sind, ihr Gesicht zu zeigen."

Derart hart urteilt der "Digitalvisionär" Jaron Lanier im Interview mit dem SPIEGEL über Wikipedia. "Die schlimmste [Idee] ist der Glaube an die sogenannte Weisheit der Massen, die im Internet ihre Vollendung finde", so Lanier weiter. Ich habe zwar auch so meine Probleme mit der "Weisheit der Massen", glaube aber nicht, daß Wikipedia dafür das richtige Beispiel ist.

Das interessante am Phänomen Wikipedia ist ja gerade, daß mit dem Wiki-Prinzip so viele qualitativ hochwertige Artikel entstanden sind, die den Vergleich mit Standard-Enzyklopädien wie dem Brockhaus nicht scheuen müssen. Natürlich finden sich nach wie vor viele Artikel die Schrott sind und bevor man Infos aus der Wikipedia für wahr nimmt, sollte man sie immer noch mal prüfen. Unterm Strich findet man aber ein breites Angebot an Wissen und Informationen, das einem oft weiterhilft.

Die Kritiken sind bei genauer Betrachung meistens schwach, so trägt Laniers Argument, die Wikipedia-Autoren würden sich hinter ihrer Anonymität verstecken, wenig. Tatsächlich treffen sich ja viele Stamm-User ganz real und nicht wenige verwenden auch im Netz ihren tatsächlichen Namen. Selbst wenn sie sich aber auf die Verwendung eines Pseudonyms beschränken, führt das nicht zu einem Mangel an Verantwortlichkeit ("Wer unsichtbar ist, ist unangreifbar. Die Wahrheit hingegen bekommen Sie nur mit Verantwortlichkeit"). Viele dieser anonymen Autoren übernehmen ja nicht zuletzt dadurch Verantwortung, daß sie falsche oder schlicht weg blödsinnige Informationen wieder entfernen bzw. ersetzen. Natürlich besteht zwischen den Begriffen Verantwortung und Verantwortlichkeit ein Unterschied, aber selbst wenn der ursprüngliche Autor wegen seiner Anomymität (die ja oft auch nur vermeintlich existiert) nicht verantwortlich gemacht werden kann, übernehmen andere ebenfalls anonyme Autoren insofern Verantwortung, als daß sie den Blödsinn umgehend löschen, da sie sich dem Projekt und seinen Idealen verpflichtet fühlen. Und ob der Vandalismus unter dem Wikipedia leidet besser in den Griff zu kriegen wäre, wenn jeder Veränderungen nur noch unter seiner Reallife-Identität vornehmen könnte? Das größere Problem sind ja nicht die bewußt falschen Artikel, sondern die unbewußten (d.h., der Autor ist sich nicht darüber im Klaren, was für einen Unsinn er schreibt). Dagegen würde auch kein Zwang die eigene Reallife-Identität zu offenbaren helfen.

Dennoch wird die Kritik in den Medien an Wikipedia immer lauter, seit man auch dort begriffen hat, daß das Wiki-Prinzip natürlich potentiell auch offen für Manipulationen ist. Jeder nicht sofort berichtigte Falscheintrag mutiert auf einmal zum Beleg dafür, daß die Wikipedia nicht viel taugt. Erst vor kurzem griff die Süddeutsche Zeitung die Problematik auf und baute absichtlich Fehler in Wikipedia-Einträge ein, um zu sehen wie viele davon gefunden würden und wie lange es dauert. Von 17 Falschinformationen deckte die Wikipedia-Community aber 12 auf, noch bevor die SZ ihren "Skandalartikel" abdruckte, eine noch passable Quote.

Besonders dreist mutet allerdings die neue "Wiki-Fehlia"-Kampagne der Bild-Zeitung an. Ausgerechnet Deutschlands größtes Boulevard-Blatt, berühmt berüchtigt für seine Falschinformationen (siehe BILDblog), rief seine Leser dazu auf, in der "Wiki-Fehlia" nach Fehlern zu suchen und diese dann Bild zu melden. Schließlich berichtete Bild dann über "Schmutz-Einträge", erstes "Promi-Opfer" sei Dieter Thomas Heck, über den in der Wikipedia unter anderem zu lesen war, er hätte "nach einem Bombenangriff drei Tage lang onanierend unter einer Kellertreppe" gelegen. Erstens handelt es sich bei dieser Information recht offensichtlich um einen pubertären Scherz, zweitens wurde der Unsinn zügig wieder aus dem Eintrag entfernt (wie Bild selber einräumt) und drittens wurde die Falschinformation just an dem Tag in die Wikipedia eingetragen, an dem die Bild-Zeitung öffentlich dazu aufgerufen hatte nach Fehlern in der Wikipedia zu suchen, wie BILDblog herausgearbeitet hat.

Nüchtern betrachtet sind das alles recht müde Skandalisierungs-Versuche. Entgegen den vielen Unkenrufen klappt das in der Wikipedia mit dem Ausfiltern von Falschinformationen und dem Hervorbringen von qualitativ brauchbaren Artikeln recht gut. Natürlich wird es immer wieder Fehler geben, die den zahlreichen Autoren nicht auffallen und dann unter Umständen länger in einem Artikel bestehen oder die wegen einer kontroversen Diskussion lange brauchen, bevor sie endgültig verschwunden sind. Nur solange man Informationen aus Wikipedia-Artikeln nicht automatisch als unumstößliche Wahrheit betrachtet, sollte das kein Problem sein.

Freitag, November 10, 2006

Israel fliegt Stuka-Scheinangriff auf französische Stellung

Auch wenn es böse klingt, aber die Scheinattacke mehrerer israelischer F-15 auf einen französischen Posten im Südlibanon lief offenbar wirklich mit jenen Sturzangriffen vergleichbar ab, die von deutsche Piloten im Zweiten Weltkrieg mit der Ju 87 geflogen wurden. Natürlich mit dem entscheidenen Unterschied, daß es sich im Libanon zum Glück nur um einen Scheinangriff gehandelt hat (und das Ziel auch keine Zivilisten waren):
"Alliot-Maries Angaben zufolge gingen bei dem Vorfall mehrere israelische F-15-Kampfflugzeuge 'im Sturzflug' auf eine französische Unifil-Stellung im Südlibanon. Dann zogen sie plötzlich wieder hoch - typisch für Scheinangriffe, wie sie israelische Piloten im Libanon offenbar immer wieder fliegen. Alliot-Marie sagte, dies sei üblicherweise eine 'Angriffshaltung, um Bomben abzuwerfen oder Schüsse mit der Bordkanone abzugeben'. Das 'unverantwortliche Verhalten' habe Frankreichs Soldaten in eine Situation gebracht, 'in der sie Notwehr-Schüsse abgeben müssen' - doch hätten sie 'eine Katastrophe gerade noch verhindert'. Wegen der Jets hätten die Soldaten schon die Abdeckungen ihrer Raketenstellung entfernt und sich auf Abwehrfeuer vorbereitet gehabt." (SPON, 09.11.06)

Die Szenerie erinnert auffällig an ähnliche Situationen in der jüngsten Vergangenheit. So hatte z.B. eine israelische F-16 zwei Schüsse aus ihren Bordkanonen über dem deutschen Flottendienstboot "Alster" abgefeuert und Anti-Raketen-Täuschkörper abgeworfen (SPON, 27.10.06). In einem anderen Vorfall wurde ein deutscher Transporthubschrauber von einer F-16 bedrängt (SPON, 29.10.06). Die Motivation Israels solche Zwischenfälle zu provozieren beschreibt SPON wie folgt:

"In der vergangenen Woche wurde allerdings ein internes Papier der israelischen Armeeführung bekannt, dem zufolge die Flüge ein 'Druckmittel' sind: Damit solle die internationale Gemeinschaft gedrängt werden, sich für die Freilassung der beiden am 12. Juli von der Hisbollah verschleppten israelischen Soldaten einzusetzen und den Waffenschmuggel aus Syrien und Iran an die Miliz ernsthaft zu unterbinden." (SPON, 09.11.06)

Fragwürdig ob Israel mit dieser Strategie Erfolg haben wird. Solche aggressiven Manöver führen eher zu weiteren Spannungen zwischen Israel und den im Südlibanon stationierten Unifil-Truppen.

Zeitgleich führte der Tod von 19 Zivilisten durch eine israelische Artilleriegranate zu einer erneuten Eskalation im Gazastreifen:

"Eigentlich war die israelische Militäroperation in Beit Hanun im Gazastreifen, bei der mindestens 50 Menschen ums Leben kamen, am Dienstagmorgen nach knapp einer Woche zu Ende gegangen. Doch einen Tag später schlug eine Artilleriegranate in ein Wohnhaus ein, tötete 19 weitere Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, und setzte die Ereignisse erst richtig in Gang: Die radikalislamische Hamas rief zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahren wieder zu Anschlägen in Israel auf, in Ost-Jerusalem lieferten sich Jugendliche erbitterte Auseinandersetzungen mit der Polizei und über den israelischen Städten und Gemeinden in der Nachbarschaft des Gazastreifens gingen bis Donnerstagmittag 28 Kassam-Raketen nieder." (Telepolis, 09.11.06)

Natürlich hat der Staat Israel das Recht und die Pflicht seine Bürger vor Übergriffen von Hamas und Hisbollah zu schützen. Nur ebenso wenig wie Scheinangriffe auf die Unifil-Truppen diese dazu bewegen werden, die Hisbollah im Südlibanon konsequent zu entwaffnen (bzw. den Waffenschmuggel zu unterbinden), wird sich auch die Hamas im Gazastreifen nicht dadurch aufhalten lassen, daß man dort unter Zivilisten ein durch Fahrlässigkeit bedingtes Blutbad anrichtet. Im Gegenteil, die Hamas kommt ja gerade erst durch solche blutigen Militäroperationen wieder richtig "in Fahrt".

Sonntag, November 05, 2006

Gegen die Wand

arte zeigt am morgigen Montag den 06.11.06 um 0:15 Uhr (Nacht von Montag auf Dienstag) den preisgekrönten Spielfilm "Gegen die Wand" des türkischstämmigen Deutschen Fatih Akin. Der Film erhielt unter anderem den Goldenen Bären auf der Berlinale 2004 und fünf Lolas in Gold des Deutschen Filmpreises.

Cahit (Birol Ünel), ein Deutschtürke Anfang 40 der in Hamburg lebt, ist seit dem Tod seiner Frau depressiv und dem Alkohol verfallen. Zu Beginn des Films versucht er sich umzubringen, indem er gegen eine Wand fährt. In der Psychiatrie lernt er die junge Deutschtürkin Sibel (Sibel Kekilli) kennen, die ebenfalls versucht hat Suizid zu begehen, da sie sich von ihrer traditionell-konservativen Familie eingeengt sieht.
"Ich will leben, ich will tanzen, ich will ficken. Und nicht nur mit einem Typen."

Mit diesem inzwischen legendären Zitat eröffnet die quirlige Sibel Cahit, daß er sie doch zum Schein heiraten möge, damit sie endlich ihren Durst nach Leben stillen kann. Falls nicht, so Sibel, würde sie erneut versuchen sich umzubringen (was sie dann auch tatsächlich versucht). Der stets grummelige und ungehaltene Cahit lehnt zunächst ab, willigt dann aber doch ein. Zusammen mit seinem besten Kumpel, den er für seinen Onkel ausgibt, wird er bei Sibels Familie vorstellig und erhält schließlich deren Einverständnis zur Heirat.

SPOILER WARNING

Zunächst läuft alles nach Plan, Sibel lebt ihr wildes, promiskes Wunschleben und Cahit schläft regelmässig mit einer alten Freundin. So leben Sibel und Cahit zwar zusammen in einer Wohnung, ihre Ehe bleibt wie verabredet aber nur Schein. Vorsichtige Annäherungsversuche durch Sibel die mehr über Cahit erfahren möchte, fruchten nicht, da dieser jedesmal ausrastet, wenn man ihn auf seine Vergangenheit anspricht und sich ansonsten nur dem Alkohol hingibt.

Doch Cahit muß einsehen, daß er sich doch in Sibel verliebt hat. Zuzusehen wie sie mit anderen Männern verschwindet, fällt ihm zunehmend schwer. Er sagt jedoch nichts. Auch Sibel kaschiert ihre Eifersucht, nachdem sie erfahren hat, daß Cahit mit seiner alten Freundin schläft. Als Sibel aus Wut über Cahit Nico, einen Bekannten von Cahit, abweist, der sich von ihr mehr erhofft hatte als nur einen One-Nigh-Stand, kommt es zum Eklat: betrunken zieht Nico später in einer Bar -- und in Anwesenheit von Cahit -- über Sibel her. Was sie eigentlich für eine Beziehung führen würden, warum er kein Problem damit habe wenn seine Frau in der Gegend rumvögelt, ob er ihr Zuhälter sei, etc. Cahit bleibt zunächst ruhig, erträgt Nicos Pöbeleien scheinbar stoisch. Doch dann bricht es plötzlich aus ihm heraus und er tötet Nico mit einem einzigen Schlag mit einer Bierflasche. Er wird wegen Totschlags verurteilt und muß ins Gefängnis.

Die Boulevard-Presse greift die Geschichte auf und Sibels Scheinehe fliegt auf, jeder weiß jetzt, daß sie mehrere Männerbekanntschaften hatte. Ihr Vater verstößt sie, von ihrem Bruder wird sie gejagt. Schließlich geht sie nach Istanbul wo ihre weltoffene, einige Jahre ältere Cousine Selma ein Single-Leben lebt. Doch schnell empfindet Sibel für Selma, die sie früher immer bewunderte, nur noch Verachtung. Denn Selma lebt das Leben eines Workaholics, sie arbeitet von früh bis spät in einem Hotel, mit dem Ziel, es eines Tages übernehmen zu können. Zeit für ein Privatleben bleibt da nicht. Anders als die lebenshungrige Sibel, geht Selma nie aus.

Schließlich zieht Sibel bei Selma aus und kommt bei einem Barkeeper unter, der sie aber auch nur ausnutzt. Sie tanzt, trinkt und vögelt mehr denn je, doch hat mit einer starken inneren Leere zu kämpfen, die nur Cahit zu füllen in der Lage war. Ihren selbstzerstörerischen Tiefpunkt erreicht sie, als sie nachts betrunken in einer dunklen Istanbuler Gasse drei ebenfalls betrunkene Männer so sehr provoziert, daß die sie zunächst zusammenschlagen und -- nachdem sie immer noch nicht Ruhe gibt -- anschließend niederstechen. Diese Eskalation wurde von Sibel bewußt herbeigeführt, doch sie überlebt knapp.

Im Gefängnis in Deutschland ist es seine Liebe zu Sibel, die Cahit nach eigenem Bekunden am Leben erhält. Er wandelt sich, gibt das Trinken auf, wird ein anderer Mensch. Nachdem er aus dem Gefängnis entlassen ist, zieht es ihn sofort nach Istanbul zu Sibel. Doch auch diese hat sich inzwischen gewandelt, hat wieder geheiratet und mit ihrem Ehemann eine Tochter. Sie bleibt mit Rücksicht auf ihre neue Familie zunächst auf Distanz zu Cahit, doch ihre Liebe ist so intensiv wie eh und je, in einem Hotelzimmer geben sie sich einander schließlich hin. Cahit plant zusammen mit Sibel und dem Kind in einen anderen Teil der Türkei zu verschwinden, aus dem er, Cahit, ursprünglich stammt. Sibel willigt zunächst ein, erscheint aber nicht zum vereinbarten Treffpunkt, weil sie ihr neues Leben nicht aufgeben will, den Vater ihres Kindes nicht verlassen möchte. So muß Cahit unverrichteter Dinge allein von dannen ziehen.

"Gegen die Wand" ist ein unglaublich intensiver Film, voller Leidenschaft und Selbstzerstörung, die beide Hauptakteure gleichermaßen auszeichnet. Brillant gespielt und inszeniert ist er für jeden Cineasten ein Muß. In der Wikipedia wird das treffend ausgedrückt:

"Der Film verarbeitet zwei große Themen brillant: Da ist zunächst die Frage nach der Identität des türkischstämmigen Einwanderers Cahit, der seit dreißig Jahren in Deutschland lebt, und der jungen türkischen Frau, die in Deutschland geboren und umgeben von einer weltoffenen deutschen Gesellschaft traditionell türkisch erzogen wurde (...) Das zweite Thema ist die Liebesgeschichte zwischen Cahit und Sibel, die reich an Gefühlen und Wirrungen, an Missverständnissen und falschen Vorstellungen ist." (Wikipedia)

Interessanter Weise gibt es zudem viele Übereinstimmungen zwischen Sibel der Filmfigur und Sibel Kekilli der Schauspielerin. Nachdem der Film den Goldenen Bären erhalten hatte, wühlte die Bild-Zeitung und fand heraus, daß Sibel Kekilli vorher eine Pornodarstellerin gewesen war. Das Thema wurde wochenlang ausgeschlachtet, Bild und andere Boulevard Medien starteten eine der häßlichsten Kampagnen die man bis dahin gesehen hatte und führten Kekilli an den Rand eines Zusammenbruchs. Der Presserat stellte fest, daß Bild die Menschenwürde verletzt. Ebenso wie die Familie im Film mit Sibel bricht, als sie aus der Zeitung erfahren muß, was für ein Leben diese geführt hat, so führte die "Aufarbeitung" von Sibels Pornovergangenheit auch in der Realität dazu, daß sie von ihrem Vater verstoßen wurde und er mit ihr nichts mehr zu tun haben will (siehe FAZ-Interview, 23.02.04).

Auch das im Film grundsätzlich thematisierte Problem, von jungen türkischstämmigen Frauen, die zwar in Deutschland geboren sind aber nach traditionellen, konservativen, muslimischen Regeln erzogen werden, ist ja durchaus real. Irgendwann kommt es zwangsläufig zu einem Zusammenstoß der durch die Außenwelt vermittelten westlich-emanzipatorisch-liberalen Werte mit den traditonellen, familien-internen Werten. Auch hier trifft der Film den Zahn der Zeit und wirkt authentisch.

Insgesamt ein wirklich sehenswerte Film, der seine Auszeichnungen zurecht erhalten hat. Wer die deutsche Erstaustrahlung bei arte in der letzten Woche verpaßt hat, sollte sich unbedingt die Wiederholung am morgigen Montag um 0:15 geben.

Mittwoch, November 01, 2006

Blogpause -- doch diesmal nicht ganz

Das neue Semester hat inzwischen begonnen und wie aufmerksame Leser meines Blogs wissen, bedeutet dies, daß ich mich aus der Blogosphäre und aus MSN bis zu den nächsten Ferien zurückziehe (in diesem Fall also bis Ende Februar).

Doch dies mal wird meine Absenz nicht ganz konsequent sein, denn natürlich werde ich weiter im blogSquad posten, wenn natürlich auch mit niedrigerer Frequenz als sonst. Aber das macht nichts, da es im blogSquad bekanntlich gleich mehrere Blogger gibt ;).

Nachtrag 10.11.06

Daß ich dies mal nicht nur einfach in meine Semesterpause entschwunden bin, sondern auch noch alle meine MSN-Groups-Beiträge gelöscht habe, hat in der PI-Group offenbar zu ein bißchen Bambule geführt. MSNler die schon länger dabei sind wissen dagegen, daß ich in meinem zyklisch ausgerichteten Wirken auch immer wieder meinen Nickname wechsle. Allerdings wechsle ich ihn nicht ständig, sondern nur alle zwei Jahre (und ich führe im Gegensatz zu vielen "neumodischen" Usern auch nicht mehrere Nicknames zugleich).

Wenn ich einen alten Nickname abstreife, dann auch alles was an diesem mit dranhängt, inklusive sämtlicher Group-Postings. Natürlich führt das Löschen von Postings dazu, daß die Threads dann ziemlich zerfasert aussehen. Um das zu umgehen, können die Group-Manager die entsprechenden Threads ja auch ganz löschen. Denn anders als viele andere Groupler halte ich weder mein eigenes Geschriebenes noch das von Dritten für so genial, daß man es über Jahre aufbewahren sollte. Es gibt einige wirklich geniale Threads, die Kultstatus erreichen. Auf die Masse kann man aber gut und gerne verzichten.

Zudem findet man die meisten Eingangspostings von Threads die ich selbst begonnen habe ja hier im Archiv meines Blogs. Die Diskussionsstränge aus den Groups fehlen natürlich, sind wie gesagt m.E. aber auch nicht so "bahnbrechend".

Fehlt nur noch ein neuer Nickname, aber weil der eine Weile halten muß, sollte er wohl überlegt sein. Eine Rückkehr in die MSN Groups meinerseits wird es ohnehin kaum geben, da ich ihre baldige endgültige Abschaffung vermute (die Chats dichtzumachen war doch nur der erste Schritt). Natürlich brauche ich aber für die MSN Spaces, die Blogosphäre und die neue, externe PI-Group trotzdem einen neuen Nickname. Mal sehen...

Dienstag, Oktober 31, 2006

Martinstag vs. Halloween

Als ich noch klein war, bastelten wir in der Grundschule zum Martinstag Laternen und zogen dann als Schulklasse am 11. November in einem St.-Martins-Zug durch die Straßen und haben Martinslieder gesungen (sowas wie einen römischen Reiter hatten wir allerdings nicht und vermutlich gibt es nicht mal im Rheinland -- wo diese Tradition wurzelt -- so viele Gäule wie Grundschulen). Wir sangen so sinnreiche Hymnen wie "Ich gehe mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir" und achteten penibel darauf, daß die Teelichter in unseren Laternen nicht erloschen. Ob es solche Laternenumzüge heute in Berlin noch gibt, weiß ich gar nicht.

Nicht zu übersehen überhören ist dagegen eine aus den USA übernommene, hierzulande noch relativ "neue" Tradition: Halloween. Zwar gibt es schon lange entsprechende Specials am 31.10. im Fernsehen und wohl auch die ein oder andere Halloween-Party wurde veranstaltet. Daß aber die Kinder wie in den USA durch die Straßen ziehen, an den Häusern klingeln und "Süßes oder Saures!" (Trick or Treat) brüllen, ist eine relativ neue Entwicklung, die es in Berlin erst seit ein paar Jahren gibt.

Wobei eine Großstadt hier vielleicht nicht das richtige Terrain ist, da es zumindest in der Innenstadt nur Wohnhäusern mit mehreren Mietparteien gibt und kaum Einfamilienhäuser, die sich für "Süßes oder Saures" besser eignen. Denn mal ehrlich, welches Kind hat schon Lust etwa in Marzahn einen Plattenbau nach dem anderen zu durchlaufen und dort Wohnung für Wohnung abzuklappern? Da wäre man ja mehr auf Korridoren unterwegs, als an der frischen Luft. Und wen wollte man da zwischen den Wohnungen mit seinem Kostüm auch erschrecken, den Hausmeister vielleicht?

Jedenfalls ist die Halloween-Tradition hierzulande noch noch nicht so tief verankert, daß auch jeder Deutsche Süßigkeiten parat hat, wenn ein paar Bälger am 31.10. bei ihm klingen. Und die Bereitschaft der Kinder ihre Drohung wahr zu machen und "Saures" auszuteilen, wenn man kein "Süßes" erhält, ist meiner Einschätzung nach äußerst gering. Einen Streich jenseits vom Klingelstreich zu spielen und z.B. ein Haus zu klopappen ("You TP'ed a house last week, Cartman?" "No. Last Thursday night was fajitas night.") wäre einfach zu subversiv im deutschen Autoritätsstaat. Zumindest in den gutbürgerlichen Wohngegenden in denen sich "Süßes oder Saures" hierzulande primär durchzusetzen beginnt, läßt man es nicht drauf ankommen und verzichtet dann im Falle eines Falles lieber auf die Durchführung eines Streichs.

In den USA wird Halloween seit jeher von fundamentalistischen Christen bekämpft, die diesen Brauch als heidnisch betrachten. Doch natürlich sind sie zumindest an dieser Front mit ihren Forderungen chancenlos, Halloween in den USA abschaffen zu wollen wäre so als wolle man Weihnachten abschaffen. Zumindest solche Bestrebungen gibt es in Deutschland nicht, hier betrachten die "Alteingessenen" Halloween als Mode, die man eben mitmacht oder auch nicht.

Gerade in finanziell etwas besser gestellten Familien ist die Bereitschaft solchen Mode-Wünschen der Kids nachzukommen vermutlich relativ hoch. Genauso wie das Kind sein neues Pokémon bekommt, wenn es sich das wünscht, veranstaltet man eben auch eine Halloween-Party mit dem entsprechenden finanziellen Aufwand (schmücken des Hauses, Kostüm und Plastik-Kürbisse bei Karstadt kaufen, etc.).

Die Frage ist, ob es wirklich nur eine Mode-Erscheinung ist, die irgendwann wieder vorbei geht, oder ob Halloween wie in den USA zu einer echten Tradition wird, die sich fest etabliert. Schade wäre es ja irgendwo schon, wenn alte Traditonen wie der Martinstag dann hinter adaptierten Traditionen wie Halloween zurückstehen müssen. Halloween ist wie Weihnachten inzwischen hauptsächlich eine kapitalistisch-konsumistische Veranstaltung: es geht de facto darum möglichst viele Süßigkeiten einzufahren, während es an Weihnachten um Geschenke geht. Sowohl Weihnachten als auch Halloween haben historisch natürlich noch andere Bezüge, die aber zunehmend in den Hintegrund treten.

Beim Martinstag geht es hingegen vorwiegend darum, daß die Kinder mit einer selbstgebastelten Laterne in der Dunkelheit umher ziehen, Lieder singen und ihren Spaß haben. Anders als bei Halloween ist aber das "Spaß haben" nicht so durchkommerzialisiert.

Sonntag, Oktober 29, 2006

Hörenswert (5)

"Danja Atari" ist ein Projekt des im Ruhrpott ansässigen "Tengu Basements", die Künstler im Bereich HipHop und Electro hervorbringen. "Danja Atari" ist hierbei der Künstlername einer jungen Dame als auch der ihrer Band.

Wie die bildhübsche Danja mit bürgerlichem Namen heißt und wie alt sie ist, war leider nicht zu ergoogeln. Bekannt ist aber, daß sie gebürtige Berlinerin ist, früh in den Pott zog und sich zwischendurch länger in den USA und Frankreich aufhielt. Ihr Vater ist Tunesier, was sich neben ihren Erfahrungen in den Staaten auf dem jüngst erschienenden Debut-Album "Shades of July" auch widerspiegelt, wie Danja selbst in einem Interview berichtet.

Neben ihr besteht die Band noch aus Kay Schilling (bass), Jens Schilling (guitar) und Sebastian "Zap" Maier (drums), wobei letzterer der "Mastermind" und Producer ist. Auf der offiziellen Website wird der Sound wie folgt beschrieben:

"Drum ’n’ Bass- Elemente gepaart mit elektronischen Finessen a la Massive Attack oder Portishead (...) Ein wenig Chanson, ein wenig Rap und jede Menge gehauchte Refrains, die zur Stille geleiten aber auch auffordern durchzudrehen."

Obgleich ich gerade den letzten Teil mit der "Aufforderung durchzudrehen" etwas vermisse. Aber das muß ja auch nicht sein. Und ansonsten kann sich das Album durchaus sehen lassen (es läßt sich auf der offiziellen Website vollständig anhören). Das Tunesia-Intro kommt gut, obwohl man sich wünscht, es wäre noch weiter ausgebaut worden. "Shades of July" klingt zu Beginn nach Yoko Kanno, was ein Kompliment ist. Die Rap-Einlagen von Sulal Kool sind sicherlich nicht nach dem Geschmack jedes Electro-Fans, passen aber in den Track (ebenso bei "Unfortunate"). Meine persönlichen Lieblingsstücke sind "Tragic Perceptions" und der "Electric-City Remix" von Milan East. Insgesamt ein Album das sich angenehm von vorne bis hinten durchhören läßt, die Anschaffung sei empfohlen.

Auf der MySpace-Seite von Danja Atari kann man sich auch noch ein "hausgemachtes" Promo-Video mit einem Live-Mitschnitt von "Shades of July" und einem anschließenden Interview mit Danja ansehen.

Samstag, Oktober 28, 2006

Denny Crane!

Zu den besten Serien die man zur Zeit im deutschen Fernsehen konsumieren kann, gehört zweifellos "Boston Legal". VOX strahlt die Folgen der ersten Staffel zur Zeit jeden Mittwoch um 22:05 Uhr aus.

Boston Legal wurde von David E. Kelley ins Leben gerufen, der schon diverse preisgekrönte Anwaltsserien produziert hat. Am bekanntesten ist darunter vermutlich "Ally McBeal", die hierzulande als die "Frauen-Serie" schlechthin galt, bis sie in dieser Funktion von "Sex and the City" abgelöst wurde.

Bei Boston Legal handelt es sich jedoch um einen Spin-off der ebenfalls von Kelley kreierten Serie "The Practice", die deutlich düsterer und ernster ist und daher in Deutschland wenig Anklang fand (gleichwohl hat Kabel1 laut Wikipedia die ersten drei Staffeln in den Jahren 2001 und 2002 ausgestrahlt).

Um den fließenden Übergang von The Practice zu Boston Legal verstehen zu können, sollte man sich bei Kennern der Materie belesen. Sehr zu empfehlen ist hier ein Review zu Boston Legal des serienjunkies.de-Redakteurs Christian Junklewitz.

Einer der beiden Hauptprotagonisten in Boston Legal ist der junge Anwalt Alan Shore (James Spader). Arrogant, eloquent, selbstgefällig und skrupellos entspricht er perfekt dem negativen Stereotyp des gewissenlosen Anwalts. Alan biegt und bricht das Gesetz wo er nur kann, er lügt, besticht, schüchtert ein. Frauen sind für ihn Objekte, zu denen er keine feste Bindungen einzugehen in der Lage ist, die aber immer wieder auf seinen Charme und seine verbale Schlagfertigkeit hereinfallen.

Eigentlich also eine durch und durch unsympathische Figur. Doch Alan hat auch noch eine andere Seite, wenn er sich z.B. für die Schwachen einsetzt. Sich selbst als Underdog wahrnehmend zeigt er sich solidarisch mit Mitmenschen die ebenfalls ein Leben als Underdog in der Gesellschaft fristen. Ob er seine Ex-Freundin aus der Psychiatrie boxt (obwohl diese dort ist, weil sie ihn mit dem Auto überfahren wollte), einem Hypochonder zum Sieg über seinen Arzt der ihn ausgenommen hat verhilft oder einem schwarzen Mädchen die Rolle eines weißen Mädchens in einem Musical verschafft (obwohl das schwarze Mädchen nicht wegen seiner Hautfarbe sondern wegen seiner Körperfülle abgelehnt wurde), Alan hat ein Faible für Ausgegrenzte und Unterdrückte. Dennoch ist er natürlich kein Robin Hood, kein Gutmensch, auch das wird immer wieder mehr als deutlich.

Alans in der Regel hoffnungslos unterlegener Gegenspieler innerhalb der Kanzlei ist Brad Chase (Mark Valley). Während Alan den Rebell und Underdog mimt, ist Brad der Saubermann, der die Linie der Kanzleiführung klar befolgt und aufpassen soll, daß das der Rest auch so macht. Obwohl Brad rein optisch maskuliner wirkt -- er hat ein markantes Gesicht, breite Schultern, etc. -- ist er bei weitem nicht so ein Womanizer wie der schmalbrüstige Alan. Auch in Sachen verbaler Schlagfertigkeit reicht er an Allan nicht heran, der immer einen entwaffnenden Spruch auf den Lippen hat. Viel mehr zieht Alan ihn als "Ken" (in Anspielung auf Barbies gleichnamigen Freund) und wegen seines Zu-schnell-redens immer wieder auf. Das ist eines der bemerkenswerten Merkmale der Serie: Das selbstsicher auftretene "Alphamännchen" ist nicht der Typ mit dem breiten Kreuz, dem idealtypisch schönen Gesicht und den Muskeln, sondern der schmächtige aber rhetorisch begnadete Typ.

Die zweite Hauptfigur ist neben Alan Shore allerdings Denny Crane (William Shatner). Denny Crane ist ein etwas in die Jahre gekommener Staranwalt und Seniorpartner in der Kanzlei. Den Zenit seines Schaffens überschritten muß sich Denny mit den Problemen des Älterwerdens herumplagen. Er ist vergeßlich, planlos und oft ein wenig desorientiert, man könnte auch sagen, er wird langsam senil. Was ihm bleibt, ist sein Name, mit dem er zur Legende wurde: Denny Crane! Einige Folgen bestreitet er nur damit, diesen laut auszusprechen, entweder im beisein Dritter oder auch nur für sich selbst. Der Ruf der ihm vorauseilt ist so nachhaltig, daß die Erwähnung seines Namens manchmal wirklich ausreicht. Oft dient sein Aussprechen allerdings auch nur ihm selbst, als letzte Möglichkeit der Selbstbestätigung.

Denny Crane bringt seine Kanzlei durch seine Verplantheit und sein dreistes bis unverschämtes Auftreten immer wieder in Schwierigkeiten. Dies wird bereits in der ersten Folge klar: Der wichtigste Klient der Kanzlei will, daß seine Frau von einem Detektiv überwacht wird, weil er glaubt, daß sie ihn mit jemandem betrügt. Das Problem: Es ist Denny Crane selbst, der mit der besagten Frau in die Kiste steigt. Trotz solcher Eskapaden schafft es die Kanzlei jedoch nicht Denny Crane loszuwerden, weil dieser im richtigen Moment doch immer noch ein Ass aus dem Ärmel schütteln kann und nicht ganz so senil ist, wie alle dachten.

Wenn man überlegt, daß William Shatner in den 60er Jahre als Captain Kirk jahrelang den Bauch einziehen mußte und den heroischen Raumschiffskapitän spielte und dann in den 80ern den toughen Straßencop in der reaktionären Serie "T.J. Hooker" mimte, ist es schon erstaunlich, daß er jetzt im hohen Alter (inzwischen ist er 75) noch zu einer so zwiespältigen und selbstironischen Figur wie die des Denny Crane fähig ist. Dabei spielt er de facto ja nur sich selbst: Einen leicht abgehalfterten Ex-Star, der zwar immer noch seine Glanzmomente hat, ansonsten aber damit beschäftigt ist, das Sinken seines Sterns zu verarbeiten. Und es ist gerade die Figur des Denny Crane, die Boston Legal in den USA zur Kultserie gemacht hat.

Natürlich gibt es neben diesen drei Herren, auch noch drei charmante Damen in der Serie. Diese werden jedoch bereits nach der ersten Staffel ausgewechselt, offenbar waren ihre Rollen nicht nachhaltig genug angelegt. Erst später erscheinen mit Shirley Schmidt (Candice Bergen) und Denise Bauer (Julie Bowen) zwei weibliche Charaktere, die so angelegt sind, daß sie es mit den Herren aufnehmen können.

Insgesamt läßt sich sagen, daß die Serie von ihren absurden Geschichten und den immer etwas skurril bis wundersam wirkenden Figuren lebt. Wer den schnellen verbalen Schlagabtausch liebt und ein Fan von trockenem Humor ist, der wird die Serie ausgesprochen unterhaltsam finden.

Freitag, Oktober 27, 2006

Zum Totenschädel-Skandal

Unverhältnismäßige Skandalisierung

Die Hysterie in den Medien ist angesichts immer wieder neu auftauchender Totenschädel-Fotos der Bundeswehr zur Zeit immens. Trotz des unbestrittenen Fehlverhaltens der betroffenen Soldaten stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die Reaktion darauf noch verhältnismäßig ist.

Und zwar insbesondere dann, wenn man sich mal ansieht, was zeitgleich so alles in Afghanistan abläuft. So hat die Taliban zwar Vergeltung angekündigt -- nicht aber etwa wegen der Bundeswehr-Fotos, sondern für den Tod zahlreicher Zivlisten im Südosten des Landes:

"Während die deutsche Öffentlichkeit mit weiteren schändlichen 'Bundeswehr-Schockfotos' aus Afghanistan beschäftigt ist und das bisherige Schweigen islamistischer Wortführer zu diesem Thema als 'unheimlich' bewertet wird, sieht sich die NATO mit einem anderen Image-Schaden konfrontiert: Ein Bombenangriff im Süden des Landes soll möglicherweise mindestens 60 Zivilisten das Leben gekostet haben." (Telepolis, 27.10.06)

Während diese Tötung von afghanischen Zivilisten durch die Isaf-Truppen aber in den Medien kaum Beachtung findet, ist das Geschrei riesig, wenn ein Soldat seinen Pullermann neben einem Schädelknochen ablichten läßt.

Fast könnte man meinen, es sei ethisch verwerflicher neben menschlichen Knochen zu posieren als z.B. durch Unvermögen Unschuldige zu töten. Ähnlich bringt das der Karikaturist Klaus Stuttmann in der taz auf den Punkt: In der Karikatur vom Freitag sind sterbende Soldaten zu sehen, jeweils mit der Bildunterschrift "Das ist nicht pervers", nur der letzte Soldat, der unverletzt ist und einen Totenschädel in der Hand hält, ist "pervers".

Wirklich schlimm wäre es gewesen, wenn die Bundeswehr Menschen mißhandelt oder gar Unschuldige umgebracht hätte. Ein solches Fehlverhalten hätten dann in der Tat eine Empörungswelle gerechtfertigt, wie wir sie zur Zeit erleben. Aber darum geht es in diesem Fall ja nicht. Es geht um die sterblichen Überreste von Menschen, nicht um lebende Menschen. Da besteht, trotz der natürlich berechtigten Kritk am Verhalten der Soldaten, immer noch ein gewichtiger Unterschied.

Die "Totenschädel-Vorgänge" in Afghanistan sind ein Skandal, aber sie sind nicht der "Über-Skandal" zu dem die deutsche Presselandschaft sie hypt. Da wäre es wünschenswert, man würde das Augenmerk auf viel größere Skandale lenken, wie etwa dem oben angesprochenen Tod von Zivilisten während eines Isaf-Angriffs oder dem Tod von Isaf-Soldaten während eines insgesamt fragwürdigen Einsatzes am Hindukusch.

Totenruhe wirklich gestört?

Ob tatsächlich ein Straftatbestand nach § 168 StGB ("Störung der Totenruhe", siehe auch Wikipedia) vorliegt, ist zudem bis dato immer noch nicht ganz klar. Reiner Sörries, Geschäftsführer der "Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal" (AFD), sagte gegenüber SPON:

"Reiner Sörries widerspricht auch der allgemeinen Deutung, dass es sich bei der Tat der Soldaten um Schändung handle: 'Totenschändung ist immer individualisiert', sagt der Experte zu SPIEGEL ONLINE. Die Soldaten hingegen kannten die Verstorbenen nicht." (SPON, 27.10.06)

Ob das die Juristerei genauso sieht, wird sich noch zeigen. Die Staatsanwaltschaft München hat jedenfalls gegen den ersten der identifizierten Soldaten Ermittlungen aufgenommen.

Nach gegenwärtigem Erkenntnissstand haben die Täter die Knochen zumindest nicht irgendwo auf einem Friedhof ausgegraben, sondern sie anscheinend irgendwo in einer offenen Grube am Straßenrand liegen sehen. Offenbar sind vor ihnen also schon andere pietätlos mit diesen menschlichen Überresten umgegangen. Gut, das macht die Tat der Soldaten natürlich auch nicht besser, aber es besteht hier schon noch ein qualitativer Unterschied zu z.B. Nekrophilen, die Nachts auf Friedhöfen gezielt Leichen ausbuddeln um sich an ihnen zu vergehen.

Erklärungsansätze für das Fehlverhalten

Wie es dazu nun dazu kommen konnte, daß einige Bundeswehrsoldaten ein derartiges Fehlverhalten an den Tag legen konnten, versucht der Verhaltensbiologe Wulf Schiefenhövel zu erklären

"Zum einen seien junge Männer nun einmal 'risky young males' - also mit Risiken behaftet. Soll heißen: 'Auf der ganzen Welt machen sie Dinge, die man nicht wirklich kontrollieren kann.' Das sei 'Showverhalten'. Die einen würden in Afghanistan mit Schädeln posieren, während manch andere 'sich nach dem Disco-Besuch zu sechst ins Auto setzen und gegen die Wand fahren'. Die Motivation in beiden Fällen: 'Sie wollen Macho-Macker sein', sagt Schiefenhövel zu SPIEGEL ONLINE. Das bekomme man 'nicht so leicht durch Sozialisation weg - und schon gar nicht durch kurze Lehrgänge bei der Bundeswehr'.

Als zweiter Erklärungsstrang dient Schiefenhövel die Drucksituation, in der sich deutsche Soldaten beim Auslandseinsatz am Hindukusch befinden: 'Sie stehen unter ständiger Bedrohung, kommen quasi als Eroberer in ein Land, befinden sich aber andererseits nicht in einem offenen Kampf.' Echte Kampfhandlungen dagegen könnten 'eine Ventilfunktion' haben. So aber ergebe sich 'ein Gemisch aus Routine und Frustration', das vermutlich für viele Soldaten 'massiven psychischen Druck' bedeute, sagt Schiefenhövel. Mögliche Folge: Die Soldaten fielen auf 'archaische, biophysisch begründbare Verhaltensmechanismen' zurück und posierten mit Schädelknochen" (SPON, 27.10.06)

Wenn der Soldat also endlich mal jemanden hätte, dem er eine Kugel in den Kopf jagen könnte, dann müßte er nicht mit den Gebeinen Dritter posieren. Ganz toll. Und außerdem fällt er in ein archaisch-pubertäres Showverhalten zurück, weil "risky young males" das nun mal so machen. Ach so.

Andererseits wären Soldaten, die zu viel über ihr eigenes Handeln reflektieren vermutlich unbrauchbar, sie liefen Gefahr im falschen Moment zu zögern und wären dann tot. Man braucht zum Krieg führen also ein Typ Mann, der linear denkt, sich bis zu einem bestimmten Grad seinen Machismen hingibt und immer genug Testosteron-Reserven hat. Wenn dann aber mal einige negative, gesellschaftliche "Nebenwirkungen" dieses Typs Mann an die Oberfläche kommen, ist die Empörung groß.

Wahrscheinlichkeit eines Terror-Anschlags erhöht?

Neben der Empörung über das pietätlose Verhalten der betroffenen Bundeswehr-Soldaten geht es natürlich auch um die Frage, ob durch das Veröffentlichen der Fotos die Wahrscheinlichkeit gestiegen ist, daß die Soldaten in Afghanistan oder gar die Bevölkerung hier in Deutschland Opfer von Anschlägen werden, weil radikale Islamisten Rache für die Totenschändung nehmen wollen.

Natürlich ist das nicht auszuschließen, muslimische Fundamentalisten sind bekanntlich in der jüngeren Vergangenheit schon in ähnlichen Fällen auf die Barrikaden gegangen und haben durchgedreht. Insofern hätte das Fehlverhalten dann schlimmere Auswirkungen, als die involvierte Soldaten es sich jemals hätten vorstellen können. Bisher gab es allerdings keine nennenswerten Stellungnahme von Fundamentalisten.

Auch steht bis dato immer noch nicht fest, ob es sich bei den Gebeinen um die von Muslimen oder nicht doch um die von Russen gehandelt hat (inzwischen gibt es ja mehr als einen Fall).

Fast scheint es dagegen so, als würden die deutschen Printmedien eine solche Reaktion der radikalen Islamisten regelrecht herbeischreiben wollen.

Die Intention der BILD-Zeitung

Es war die BILD-Zeitung, die am 25.10. die ersten "Schock-Fotos" veröffentlichte und sich moralisch aufspielte. Christian Gapp schreibt dazu in Telepolis:

"Dahingehend ist die im ersten Moment scheinbar besonders nahe liegende Frage nach den Intentionen der BILD-Zeitung wahrscheinlich leicht zu beantworten. Mit in Jahrzehnten vervollkommneter traumwandlerischer Sicherheit trifft BILD den gesellschaftlichen Nerv. Eine ein Tabu brechende Enthüllung ('Die Bilder erregen Abscheu'), kombiniert mit staatstragender Rhetorik ('Sind sich Vorgesetzte immer ihrer Verantwortung bewusst?') garantiert hechelnde Neugierbefriedigung und pseudo-moralische Unangreifbarkeit." (Telepolis, 26.10.06)

Dennoch kann der durch die BILD-Zeitung begonnen Skandalisierung des Vorfalls vielleicht auch etwas positives abgewonnen werden, wie auch Gapp meint: Auf diese Art und Weise wächst in der Öffentlichkeit das Bewußtsein, in was für einer mißlichen Lage sich die Bundeswehr in Afghanistan befindet. Mäßig ausgerüstet und schlecht geschult arbeiten sie dort unten dem großen Knall entgegen. Gapp geht davon aus, daß es so langfristig vielleicht sogar zu einer wirklichen Diskussion über Sinn und Zweck der Bundeswehrmissionen kommen könnte.

Siehe zum Thema im blogSquad auch: "schändliches" von kreyki.