Freitag, Oktober 27, 2006

Zum Totenschädel-Skandal

Unverhältnismäßige Skandalisierung

Die Hysterie in den Medien ist angesichts immer wieder neu auftauchender Totenschädel-Fotos der Bundeswehr zur Zeit immens. Trotz des unbestrittenen Fehlverhaltens der betroffenen Soldaten stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die Reaktion darauf noch verhältnismäßig ist.

Und zwar insbesondere dann, wenn man sich mal ansieht, was zeitgleich so alles in Afghanistan abläuft. So hat die Taliban zwar Vergeltung angekündigt -- nicht aber etwa wegen der Bundeswehr-Fotos, sondern für den Tod zahlreicher Zivlisten im Südosten des Landes:

"Während die deutsche Öffentlichkeit mit weiteren schändlichen 'Bundeswehr-Schockfotos' aus Afghanistan beschäftigt ist und das bisherige Schweigen islamistischer Wortführer zu diesem Thema als 'unheimlich' bewertet wird, sieht sich die NATO mit einem anderen Image-Schaden konfrontiert: Ein Bombenangriff im Süden des Landes soll möglicherweise mindestens 60 Zivilisten das Leben gekostet haben." (Telepolis, 27.10.06)

Während diese Tötung von afghanischen Zivilisten durch die Isaf-Truppen aber in den Medien kaum Beachtung findet, ist das Geschrei riesig, wenn ein Soldat seinen Pullermann neben einem Schädelknochen ablichten läßt.

Fast könnte man meinen, es sei ethisch verwerflicher neben menschlichen Knochen zu posieren als z.B. durch Unvermögen Unschuldige zu töten. Ähnlich bringt das der Karikaturist Klaus Stuttmann in der taz auf den Punkt: In der Karikatur vom Freitag sind sterbende Soldaten zu sehen, jeweils mit der Bildunterschrift "Das ist nicht pervers", nur der letzte Soldat, der unverletzt ist und einen Totenschädel in der Hand hält, ist "pervers".

Wirklich schlimm wäre es gewesen, wenn die Bundeswehr Menschen mißhandelt oder gar Unschuldige umgebracht hätte. Ein solches Fehlverhalten hätten dann in der Tat eine Empörungswelle gerechtfertigt, wie wir sie zur Zeit erleben. Aber darum geht es in diesem Fall ja nicht. Es geht um die sterblichen Überreste von Menschen, nicht um lebende Menschen. Da besteht, trotz der natürlich berechtigten Kritk am Verhalten der Soldaten, immer noch ein gewichtiger Unterschied.

Die "Totenschädel-Vorgänge" in Afghanistan sind ein Skandal, aber sie sind nicht der "Über-Skandal" zu dem die deutsche Presselandschaft sie hypt. Da wäre es wünschenswert, man würde das Augenmerk auf viel größere Skandale lenken, wie etwa dem oben angesprochenen Tod von Zivilisten während eines Isaf-Angriffs oder dem Tod von Isaf-Soldaten während eines insgesamt fragwürdigen Einsatzes am Hindukusch.

Totenruhe wirklich gestört?

Ob tatsächlich ein Straftatbestand nach § 168 StGB ("Störung der Totenruhe", siehe auch Wikipedia) vorliegt, ist zudem bis dato immer noch nicht ganz klar. Reiner Sörries, Geschäftsführer der "Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal" (AFD), sagte gegenüber SPON:

"Reiner Sörries widerspricht auch der allgemeinen Deutung, dass es sich bei der Tat der Soldaten um Schändung handle: 'Totenschändung ist immer individualisiert', sagt der Experte zu SPIEGEL ONLINE. Die Soldaten hingegen kannten die Verstorbenen nicht." (SPON, 27.10.06)

Ob das die Juristerei genauso sieht, wird sich noch zeigen. Die Staatsanwaltschaft München hat jedenfalls gegen den ersten der identifizierten Soldaten Ermittlungen aufgenommen.

Nach gegenwärtigem Erkenntnissstand haben die Täter die Knochen zumindest nicht irgendwo auf einem Friedhof ausgegraben, sondern sie anscheinend irgendwo in einer offenen Grube am Straßenrand liegen sehen. Offenbar sind vor ihnen also schon andere pietätlos mit diesen menschlichen Überresten umgegangen. Gut, das macht die Tat der Soldaten natürlich auch nicht besser, aber es besteht hier schon noch ein qualitativer Unterschied zu z.B. Nekrophilen, die Nachts auf Friedhöfen gezielt Leichen ausbuddeln um sich an ihnen zu vergehen.

Erklärungsansätze für das Fehlverhalten

Wie es dazu nun dazu kommen konnte, daß einige Bundeswehrsoldaten ein derartiges Fehlverhalten an den Tag legen konnten, versucht der Verhaltensbiologe Wulf Schiefenhövel zu erklären

"Zum einen seien junge Männer nun einmal 'risky young males' - also mit Risiken behaftet. Soll heißen: 'Auf der ganzen Welt machen sie Dinge, die man nicht wirklich kontrollieren kann.' Das sei 'Showverhalten'. Die einen würden in Afghanistan mit Schädeln posieren, während manch andere 'sich nach dem Disco-Besuch zu sechst ins Auto setzen und gegen die Wand fahren'. Die Motivation in beiden Fällen: 'Sie wollen Macho-Macker sein', sagt Schiefenhövel zu SPIEGEL ONLINE. Das bekomme man 'nicht so leicht durch Sozialisation weg - und schon gar nicht durch kurze Lehrgänge bei der Bundeswehr'.

Als zweiter Erklärungsstrang dient Schiefenhövel die Drucksituation, in der sich deutsche Soldaten beim Auslandseinsatz am Hindukusch befinden: 'Sie stehen unter ständiger Bedrohung, kommen quasi als Eroberer in ein Land, befinden sich aber andererseits nicht in einem offenen Kampf.' Echte Kampfhandlungen dagegen könnten 'eine Ventilfunktion' haben. So aber ergebe sich 'ein Gemisch aus Routine und Frustration', das vermutlich für viele Soldaten 'massiven psychischen Druck' bedeute, sagt Schiefenhövel. Mögliche Folge: Die Soldaten fielen auf 'archaische, biophysisch begründbare Verhaltensmechanismen' zurück und posierten mit Schädelknochen" (SPON, 27.10.06)

Wenn der Soldat also endlich mal jemanden hätte, dem er eine Kugel in den Kopf jagen könnte, dann müßte er nicht mit den Gebeinen Dritter posieren. Ganz toll. Und außerdem fällt er in ein archaisch-pubertäres Showverhalten zurück, weil "risky young males" das nun mal so machen. Ach so.

Andererseits wären Soldaten, die zu viel über ihr eigenes Handeln reflektieren vermutlich unbrauchbar, sie liefen Gefahr im falschen Moment zu zögern und wären dann tot. Man braucht zum Krieg führen also ein Typ Mann, der linear denkt, sich bis zu einem bestimmten Grad seinen Machismen hingibt und immer genug Testosteron-Reserven hat. Wenn dann aber mal einige negative, gesellschaftliche "Nebenwirkungen" dieses Typs Mann an die Oberfläche kommen, ist die Empörung groß.

Wahrscheinlichkeit eines Terror-Anschlags erhöht?

Neben der Empörung über das pietätlose Verhalten der betroffenen Bundeswehr-Soldaten geht es natürlich auch um die Frage, ob durch das Veröffentlichen der Fotos die Wahrscheinlichkeit gestiegen ist, daß die Soldaten in Afghanistan oder gar die Bevölkerung hier in Deutschland Opfer von Anschlägen werden, weil radikale Islamisten Rache für die Totenschändung nehmen wollen.

Natürlich ist das nicht auszuschließen, muslimische Fundamentalisten sind bekanntlich in der jüngeren Vergangenheit schon in ähnlichen Fällen auf die Barrikaden gegangen und haben durchgedreht. Insofern hätte das Fehlverhalten dann schlimmere Auswirkungen, als die involvierte Soldaten es sich jemals hätten vorstellen können. Bisher gab es allerdings keine nennenswerten Stellungnahme von Fundamentalisten.

Auch steht bis dato immer noch nicht fest, ob es sich bei den Gebeinen um die von Muslimen oder nicht doch um die von Russen gehandelt hat (inzwischen gibt es ja mehr als einen Fall).

Fast scheint es dagegen so, als würden die deutschen Printmedien eine solche Reaktion der radikalen Islamisten regelrecht herbeischreiben wollen.

Die Intention der BILD-Zeitung

Es war die BILD-Zeitung, die am 25.10. die ersten "Schock-Fotos" veröffentlichte und sich moralisch aufspielte. Christian Gapp schreibt dazu in Telepolis:

"Dahingehend ist die im ersten Moment scheinbar besonders nahe liegende Frage nach den Intentionen der BILD-Zeitung wahrscheinlich leicht zu beantworten. Mit in Jahrzehnten vervollkommneter traumwandlerischer Sicherheit trifft BILD den gesellschaftlichen Nerv. Eine ein Tabu brechende Enthüllung ('Die Bilder erregen Abscheu'), kombiniert mit staatstragender Rhetorik ('Sind sich Vorgesetzte immer ihrer Verantwortung bewusst?') garantiert hechelnde Neugierbefriedigung und pseudo-moralische Unangreifbarkeit." (Telepolis, 26.10.06)

Dennoch kann der durch die BILD-Zeitung begonnen Skandalisierung des Vorfalls vielleicht auch etwas positives abgewonnen werden, wie auch Gapp meint: Auf diese Art und Weise wächst in der Öffentlichkeit das Bewußtsein, in was für einer mißlichen Lage sich die Bundeswehr in Afghanistan befindet. Mäßig ausgerüstet und schlecht geschult arbeiten sie dort unten dem großen Knall entgegen. Gapp geht davon aus, daß es so langfristig vielleicht sogar zu einer wirklichen Diskussion über Sinn und Zweck der Bundeswehrmissionen kommen könnte.

Siehe zum Thema im blogSquad auch: "schändliches" von kreyki.

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