Sonntag, November 05, 2006

Gegen die Wand

arte zeigt am morgigen Montag den 06.11.06 um 0:15 Uhr (Nacht von Montag auf Dienstag) den preisgekrönten Spielfilm "Gegen die Wand" des türkischstämmigen Deutschen Fatih Akin. Der Film erhielt unter anderem den Goldenen Bären auf der Berlinale 2004 und fünf Lolas in Gold des Deutschen Filmpreises.

Cahit (Birol Ünel), ein Deutschtürke Anfang 40 der in Hamburg lebt, ist seit dem Tod seiner Frau depressiv und dem Alkohol verfallen. Zu Beginn des Films versucht er sich umzubringen, indem er gegen eine Wand fährt. In der Psychiatrie lernt er die junge Deutschtürkin Sibel (Sibel Kekilli) kennen, die ebenfalls versucht hat Suizid zu begehen, da sie sich von ihrer traditionell-konservativen Familie eingeengt sieht.
"Ich will leben, ich will tanzen, ich will ficken. Und nicht nur mit einem Typen."

Mit diesem inzwischen legendären Zitat eröffnet die quirlige Sibel Cahit, daß er sie doch zum Schein heiraten möge, damit sie endlich ihren Durst nach Leben stillen kann. Falls nicht, so Sibel, würde sie erneut versuchen sich umzubringen (was sie dann auch tatsächlich versucht). Der stets grummelige und ungehaltene Cahit lehnt zunächst ab, willigt dann aber doch ein. Zusammen mit seinem besten Kumpel, den er für seinen Onkel ausgibt, wird er bei Sibels Familie vorstellig und erhält schließlich deren Einverständnis zur Heirat.

SPOILER WARNING

Zunächst läuft alles nach Plan, Sibel lebt ihr wildes, promiskes Wunschleben und Cahit schläft regelmässig mit einer alten Freundin. So leben Sibel und Cahit zwar zusammen in einer Wohnung, ihre Ehe bleibt wie verabredet aber nur Schein. Vorsichtige Annäherungsversuche durch Sibel die mehr über Cahit erfahren möchte, fruchten nicht, da dieser jedesmal ausrastet, wenn man ihn auf seine Vergangenheit anspricht und sich ansonsten nur dem Alkohol hingibt.

Doch Cahit muß einsehen, daß er sich doch in Sibel verliebt hat. Zuzusehen wie sie mit anderen Männern verschwindet, fällt ihm zunehmend schwer. Er sagt jedoch nichts. Auch Sibel kaschiert ihre Eifersucht, nachdem sie erfahren hat, daß Cahit mit seiner alten Freundin schläft. Als Sibel aus Wut über Cahit Nico, einen Bekannten von Cahit, abweist, der sich von ihr mehr erhofft hatte als nur einen One-Nigh-Stand, kommt es zum Eklat: betrunken zieht Nico später in einer Bar -- und in Anwesenheit von Cahit -- über Sibel her. Was sie eigentlich für eine Beziehung führen würden, warum er kein Problem damit habe wenn seine Frau in der Gegend rumvögelt, ob er ihr Zuhälter sei, etc. Cahit bleibt zunächst ruhig, erträgt Nicos Pöbeleien scheinbar stoisch. Doch dann bricht es plötzlich aus ihm heraus und er tötet Nico mit einem einzigen Schlag mit einer Bierflasche. Er wird wegen Totschlags verurteilt und muß ins Gefängnis.

Die Boulevard-Presse greift die Geschichte auf und Sibels Scheinehe fliegt auf, jeder weiß jetzt, daß sie mehrere Männerbekanntschaften hatte. Ihr Vater verstößt sie, von ihrem Bruder wird sie gejagt. Schließlich geht sie nach Istanbul wo ihre weltoffene, einige Jahre ältere Cousine Selma ein Single-Leben lebt. Doch schnell empfindet Sibel für Selma, die sie früher immer bewunderte, nur noch Verachtung. Denn Selma lebt das Leben eines Workaholics, sie arbeitet von früh bis spät in einem Hotel, mit dem Ziel, es eines Tages übernehmen zu können. Zeit für ein Privatleben bleibt da nicht. Anders als die lebenshungrige Sibel, geht Selma nie aus.

Schließlich zieht Sibel bei Selma aus und kommt bei einem Barkeeper unter, der sie aber auch nur ausnutzt. Sie tanzt, trinkt und vögelt mehr denn je, doch hat mit einer starken inneren Leere zu kämpfen, die nur Cahit zu füllen in der Lage war. Ihren selbstzerstörerischen Tiefpunkt erreicht sie, als sie nachts betrunken in einer dunklen Istanbuler Gasse drei ebenfalls betrunkene Männer so sehr provoziert, daß die sie zunächst zusammenschlagen und -- nachdem sie immer noch nicht Ruhe gibt -- anschließend niederstechen. Diese Eskalation wurde von Sibel bewußt herbeigeführt, doch sie überlebt knapp.

Im Gefängnis in Deutschland ist es seine Liebe zu Sibel, die Cahit nach eigenem Bekunden am Leben erhält. Er wandelt sich, gibt das Trinken auf, wird ein anderer Mensch. Nachdem er aus dem Gefängnis entlassen ist, zieht es ihn sofort nach Istanbul zu Sibel. Doch auch diese hat sich inzwischen gewandelt, hat wieder geheiratet und mit ihrem Ehemann eine Tochter. Sie bleibt mit Rücksicht auf ihre neue Familie zunächst auf Distanz zu Cahit, doch ihre Liebe ist so intensiv wie eh und je, in einem Hotelzimmer geben sie sich einander schließlich hin. Cahit plant zusammen mit Sibel und dem Kind in einen anderen Teil der Türkei zu verschwinden, aus dem er, Cahit, ursprünglich stammt. Sibel willigt zunächst ein, erscheint aber nicht zum vereinbarten Treffpunkt, weil sie ihr neues Leben nicht aufgeben will, den Vater ihres Kindes nicht verlassen möchte. So muß Cahit unverrichteter Dinge allein von dannen ziehen.

"Gegen die Wand" ist ein unglaublich intensiver Film, voller Leidenschaft und Selbstzerstörung, die beide Hauptakteure gleichermaßen auszeichnet. Brillant gespielt und inszeniert ist er für jeden Cineasten ein Muß. In der Wikipedia wird das treffend ausgedrückt:

"Der Film verarbeitet zwei große Themen brillant: Da ist zunächst die Frage nach der Identität des türkischstämmigen Einwanderers Cahit, der seit dreißig Jahren in Deutschland lebt, und der jungen türkischen Frau, die in Deutschland geboren und umgeben von einer weltoffenen deutschen Gesellschaft traditionell türkisch erzogen wurde (...) Das zweite Thema ist die Liebesgeschichte zwischen Cahit und Sibel, die reich an Gefühlen und Wirrungen, an Missverständnissen und falschen Vorstellungen ist." (Wikipedia)

Interessanter Weise gibt es zudem viele Übereinstimmungen zwischen Sibel der Filmfigur und Sibel Kekilli der Schauspielerin. Nachdem der Film den Goldenen Bären erhalten hatte, wühlte die Bild-Zeitung und fand heraus, daß Sibel Kekilli vorher eine Pornodarstellerin gewesen war. Das Thema wurde wochenlang ausgeschlachtet, Bild und andere Boulevard Medien starteten eine der häßlichsten Kampagnen die man bis dahin gesehen hatte und führten Kekilli an den Rand eines Zusammenbruchs. Der Presserat stellte fest, daß Bild die Menschenwürde verletzt. Ebenso wie die Familie im Film mit Sibel bricht, als sie aus der Zeitung erfahren muß, was für ein Leben diese geführt hat, so führte die "Aufarbeitung" von Sibels Pornovergangenheit auch in der Realität dazu, daß sie von ihrem Vater verstoßen wurde und er mit ihr nichts mehr zu tun haben will (siehe FAZ-Interview, 23.02.04).

Auch das im Film grundsätzlich thematisierte Problem, von jungen türkischstämmigen Frauen, die zwar in Deutschland geboren sind aber nach traditionellen, konservativen, muslimischen Regeln erzogen werden, ist ja durchaus real. Irgendwann kommt es zwangsläufig zu einem Zusammenstoß der durch die Außenwelt vermittelten westlich-emanzipatorisch-liberalen Werte mit den traditonellen, familien-internen Werten. Auch hier trifft der Film den Zahn der Zeit und wirkt authentisch.

Insgesamt ein wirklich sehenswerte Film, der seine Auszeichnungen zurecht erhalten hat. Wer die deutsche Erstaustrahlung bei arte in der letzten Woche verpaßt hat, sollte sich unbedingt die Wiederholung am morgigen Montag um 0:15 geben.

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