Freitag, November 17, 2006

Wikipedia in der Defensive

"Aber was, wenn da etwas Schwerwiegendes über jemanden behauptet wird, und er kann sich nicht so ohne weiteres Gehör verschaffen? Schnell wird der Einzelne Opfer des Mobs; die Gefahr von Wiki-Lynchjustiz halte ich für sehr real. In der Wikipedia-Welt bestimmen jene die Wahrheit, die am stärksten besessen sind. Dahinter steckt der Narzissmus all dieser kleinen Jungs, die der Welt ihren Stempel aufdrücken wollen, ihre Initialen an die Mauer sprayen, aber gleichzeitig zu feige sind, ihr Gesicht zu zeigen."

Derart hart urteilt der "Digitalvisionär" Jaron Lanier im Interview mit dem SPIEGEL über Wikipedia. "Die schlimmste [Idee] ist der Glaube an die sogenannte Weisheit der Massen, die im Internet ihre Vollendung finde", so Lanier weiter. Ich habe zwar auch so meine Probleme mit der "Weisheit der Massen", glaube aber nicht, daß Wikipedia dafür das richtige Beispiel ist.

Das interessante am Phänomen Wikipedia ist ja gerade, daß mit dem Wiki-Prinzip so viele qualitativ hochwertige Artikel entstanden sind, die den Vergleich mit Standard-Enzyklopädien wie dem Brockhaus nicht scheuen müssen. Natürlich finden sich nach wie vor viele Artikel die Schrott sind und bevor man Infos aus der Wikipedia für wahr nimmt, sollte man sie immer noch mal prüfen. Unterm Strich findet man aber ein breites Angebot an Wissen und Informationen, das einem oft weiterhilft.

Die Kritiken sind bei genauer Betrachung meistens schwach, so trägt Laniers Argument, die Wikipedia-Autoren würden sich hinter ihrer Anonymität verstecken, wenig. Tatsächlich treffen sich ja viele Stamm-User ganz real und nicht wenige verwenden auch im Netz ihren tatsächlichen Namen. Selbst wenn sie sich aber auf die Verwendung eines Pseudonyms beschränken, führt das nicht zu einem Mangel an Verantwortlichkeit ("Wer unsichtbar ist, ist unangreifbar. Die Wahrheit hingegen bekommen Sie nur mit Verantwortlichkeit"). Viele dieser anonymen Autoren übernehmen ja nicht zuletzt dadurch Verantwortung, daß sie falsche oder schlicht weg blödsinnige Informationen wieder entfernen bzw. ersetzen. Natürlich besteht zwischen den Begriffen Verantwortung und Verantwortlichkeit ein Unterschied, aber selbst wenn der ursprüngliche Autor wegen seiner Anomymität (die ja oft auch nur vermeintlich existiert) nicht verantwortlich gemacht werden kann, übernehmen andere ebenfalls anonyme Autoren insofern Verantwortung, als daß sie den Blödsinn umgehend löschen, da sie sich dem Projekt und seinen Idealen verpflichtet fühlen. Und ob der Vandalismus unter dem Wikipedia leidet besser in den Griff zu kriegen wäre, wenn jeder Veränderungen nur noch unter seiner Reallife-Identität vornehmen könnte? Das größere Problem sind ja nicht die bewußt falschen Artikel, sondern die unbewußten (d.h., der Autor ist sich nicht darüber im Klaren, was für einen Unsinn er schreibt). Dagegen würde auch kein Zwang die eigene Reallife-Identität zu offenbaren helfen.

Dennoch wird die Kritik in den Medien an Wikipedia immer lauter, seit man auch dort begriffen hat, daß das Wiki-Prinzip natürlich potentiell auch offen für Manipulationen ist. Jeder nicht sofort berichtigte Falscheintrag mutiert auf einmal zum Beleg dafür, daß die Wikipedia nicht viel taugt. Erst vor kurzem griff die Süddeutsche Zeitung die Problematik auf und baute absichtlich Fehler in Wikipedia-Einträge ein, um zu sehen wie viele davon gefunden würden und wie lange es dauert. Von 17 Falschinformationen deckte die Wikipedia-Community aber 12 auf, noch bevor die SZ ihren "Skandalartikel" abdruckte, eine noch passable Quote.

Besonders dreist mutet allerdings die neue "Wiki-Fehlia"-Kampagne der Bild-Zeitung an. Ausgerechnet Deutschlands größtes Boulevard-Blatt, berühmt berüchtigt für seine Falschinformationen (siehe BILDblog), rief seine Leser dazu auf, in der "Wiki-Fehlia" nach Fehlern zu suchen und diese dann Bild zu melden. Schließlich berichtete Bild dann über "Schmutz-Einträge", erstes "Promi-Opfer" sei Dieter Thomas Heck, über den in der Wikipedia unter anderem zu lesen war, er hätte "nach einem Bombenangriff drei Tage lang onanierend unter einer Kellertreppe" gelegen. Erstens handelt es sich bei dieser Information recht offensichtlich um einen pubertären Scherz, zweitens wurde der Unsinn zügig wieder aus dem Eintrag entfernt (wie Bild selber einräumt) und drittens wurde die Falschinformation just an dem Tag in die Wikipedia eingetragen, an dem die Bild-Zeitung öffentlich dazu aufgerufen hatte nach Fehlern in der Wikipedia zu suchen, wie BILDblog herausgearbeitet hat.

Nüchtern betrachtet sind das alles recht müde Skandalisierungs-Versuche. Entgegen den vielen Unkenrufen klappt das in der Wikipedia mit dem Ausfiltern von Falschinformationen und dem Hervorbringen von qualitativ brauchbaren Artikeln recht gut. Natürlich wird es immer wieder Fehler geben, die den zahlreichen Autoren nicht auffallen und dann unter Umständen länger in einem Artikel bestehen oder die wegen einer kontroversen Diskussion lange brauchen, bevor sie endgültig verschwunden sind. Nur solange man Informationen aus Wikipedia-Artikeln nicht automatisch als unumstößliche Wahrheit betrachtet, sollte das kein Problem sein.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Mir scheinen diese kläglichen Skandalisierungsversuche ein tyisches Symptom für einen großen Teil unserer Gesellschaft zu sein: diese Leute wollen sich mit einem Problem nicht allzu lange beschäftigen, sie wollen die Lösung auf dem Silbertablett serviert. Dabei halte ich gerade die Notwendigkeit der Auseinandersetzung für eine der großen Stärken von Wikipedia: jeder Leser wird in den Prozess der Wahrheitsfindung miteingebunden, statt davon ausgeschlossen zu werden. Es erinnert mich an die Konsenstheorie von Jürgen Habermas: ihr Ziel ist eine Annäherung an die Wahrheit, die am Ende eines herrschaftsfreien Diskurses (Vermeidung von Manipulationen, Drohungen, einseitigen Beeinflussungen...) einen Konsens, also eine Übereinstimmung, keine Abstimmung(!), aller beteiligten Diskussionsteilnehmer darstellt. Voraussetzung: verhandlungsfähige Vernunft und Kommunikationsfähigkeit; außerdem werden die meisten Unwahrheiten in diesem System sehr schnell beseitigt.
Wenn hier versucht wird, ein Skandal daraus zu machen, so frage ich mich, inwiefern wir dies nicht als Alarmzeichen deuten müssen...Als Warnung vor der blinden Dummheit, die es nicht besser wissen will(!).