Freitag, Oktober 19, 2007

Hitler hatte einen Globus! -- Bahnbrechende Erkenntnisse auf einestages.de

Spiegel Online wollte wohl einfach nicht mehr die Entwicklung des Web 2.0 nur von außen betrachten. Zu verfüherisch die Idee, daß man selbst nur noch als Aggregator firmiert und die eigentliche Arbeit in Form der Erstellung von Inhalten dem gemeinen Internetnutzer überläßt.

Mit seinem neuen Portal "einestags.de" wagt Spiegel Online daher nun selbst den Einstieg ins Mitmach-Netz und beschreibt das neue Projekt wie folgt:

"einestages ist das neue Zeitgeschichte(n)-Portal von SPIEGEL ONLINE. Hier können Sie Geschichte sehen, Geschichte lesen - und Geschichte schreiben. Denn einestages macht Sie, die Leser zu Partnern in einem neuen und einmaligen Projekt: dem Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses unserer Geschichte.

(...) Sie waren dabei, als die Mauer fiel? Als der Tsunami Thailand verwüstete? Beim ersten Konzert von Tokio Hotel? Haben Sie Fotos davon? Werden Sie Zeitzeuge, schreiben Sie auf einestages Ihre ganz persönlichen Zeitgeschichten." ("Was ist einestages?")

(...) Ganz klar: Im Mittelpunkt steht das turbulente 20. Jahrhundert - aber eben das lange 20. Jahrhundert: Urgroßvaters Briefe aus der Zeit der Reichsgründung um 1870/71 sind genauso Dokumente für einestages wie das Handyfoto vom Tsunami Weihnachten 2004. ("Was ist Zeitgeschichte?")

(...) Die Nachkriegsjahre, der Deutsche Herbst, die Wiedervereinigung sind wichtige Themen für einestages. Doch unsere Vergangenheit ist mehr als graue Weltpolitik: Die Tapeten der siebziger Jahre, die ersten Handys, die WM 1974, die Oderflut - all diese Themen haben sich eingebrannt in unser kollektives Gedächtnis." ("Was sind Themen")

Nun haben Zeitzeugenberichte natürlich durchaus einen gewissen Aussagewert und in der Tat läßt sich über sie Geschichte oft erschließen. Trotzdem besteht hier natürlich auch immer die Gefahr, daß die Momentaufnahme eines Einzelnen die Wahrnehmung einer historischen Gegebenheit verzehrt. Und selbst wenn es nicht gleich soweit kommt: Im günstigsten Fall wird es doch darauf hinauslaufen, daß sich auf "einestages" Trivialitäten ansammeln -- mehr oder minder nette Anekdoten die oft nichtssagend sind.

Was sagt dem Leser zum Beispiel die Erkenntnis, daß Andreas Baader eine Haßliebe zu Autos hatte oder daß jetzt in den USA Hitlers Globus aufgetaucht ist? Wow, Hitler hatte einen Globus!

Demnächst dann vermutlich bei "einestages.de": Irmgard M. kann sich nicht erinnern ob sie am 9. November 1989 weinen mußte, weil die Mauer fiel oder weil sie gerade Zwiebeln schnitt, Peter D. hat auf seinem Dachboden das Diaphragma von Eva Braun gefunden und der Urgroßvater von Sven D. gesteht in einem Brief daß er Kaiser Wilhelm II. nicht nur im übertragenden Sinne liebt.

Andere Storys wie das "Wunder der Anden" samt Kannibalismus-Diskussion oder Menachem Begins Verwicklung in das Attentat auf Adenauer kauen nur hinlänglich Bekanntes wieder.

Besonderen Wert legt man auf Fotos, doch selbst wenn man hier unterstellt, daß einige Fotos bisher unbekannt waren, so sind sie in der Regel nicht besonders aussagekräftig oder spektakulär.

Insgesamt ein recht fader Ansatz, der aber zur medialen Tendenz paßt, zunehmend immer stärker Einzelschicksale, Momentaufnahmen und Banalitäten zu fokussieren. Schade, daß die Redakteure von einestages.de offenbar nicht lesen, was z.B. ihr Kollege Reinhard Mohr schreibt.

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