Samstag, März 12, 2005

Sehbehinderte Seerobbe kaut Schnauzermischling ein Ohr ab

Vorgestern (10.03.) brachte SPON ganz dick auf der Frontseite eine Story über einen ganz besonders schwerwiegenden Fall von mangelnder Zivilcourage in unserer Gesellschaft: "Nur eine Gehbehinderte zeigte Zivilcourage".

Der Artikel wurde in der Rubrik "Panorama" abgelegt, was immer sofort die Alarmglocken läuten lassen muß, weil "Panorama" bei SPON im Prinzip eine freundliche Umschreibung von "Boulevard" ist: wilde Geschichten von den Schönen und Reichen, Gerüchte, High Society Skandale, reißerische Headlines, eben die dreiköpfige Ziege die irgendwo in Südamerika geboren wurde.

Es ging um eine junge Frau, die in der Hamburger S-Bahn von fünf Jugendlichen zwischen ca. 15 und 17 Jahren attackiert wurde. Obwohl die S-Bahn voll besetzt war, half keiner der Frau selbst als diese um Hilfe schrie. Einzig eine ältere, gehbehinderte Frau kam ihr schließlich zur Hilfe, konnte aber auch nichts ausrichten. Beide Frauen haben in der körperlichen Auseinandersetzung das nachsehen. Selbst als die junge Frau schließlich aussteigt, lassen die Täter nicht ab und malträtieren ihr Opfer noch auf dem Bahnsteig. Schließlich entkommen sie mit einer Beute von 20 Euro. Zeugen fanden sich keine, selbst die gehbehinderte Frau konnte nicht ausfindig gemacht werden, obwohl weitere Personen diese angeblich in ein Krankenhaus bringen wollten.

Gestern (11.03.) brachte SPON dann einen weiteren Artikel zum Thema der nicht so groß aufgemacht wurde und sich ganz anders liest. Inzwischen hat die Polizei die jugendlichen Täter gefaßt, diese räumen ein, Streit mit der Frau gehabt zu haben, bestreiten allerdings sie bereits in der S-Bahn attackiert zu haben. Ein Polizeisprecher wird mit den Worten zitiert: "Ein Einschreiten von Fahrgästen war auf Grund der neuen Erkenntnisse unter Umständen gar nicht erforderlich".

Die Täter sagten, im Zug selbst habe es nur eine verbale Auseinandersetzung gegeben, erst draußen habe einer der Frau dann in den Nacken geschlagen, ein weiterer sie mit einem Kaffee-Rest übergossen. Im vollbesetzten Zugwaggon selbst gab es demnach keinen Kampf und folglich auch keine zivilcourage-losen Mitbürger (es sei denn, man setzt den Zeitpunkt Zivilcourage zu zeigen bereits bei verbalen Streitigkeiten an, dann war aber die Geschichte deutlich "überskandalisiert"). Auch drei Tage nach der Tat haben sich keine Zeugen gefunden. Vielleicht haben sie Angst, vielleicht gab es aber zum tatsächlichen Tatzeitpunkt keine Zeugen, wenn der Angriff außerhalb der S-Bahn stattgefunden hat.

Vielleicht haben Leute weggesehen, vielleicht auch nicht. Der Trend, daß immer mehr Mitmenschen keine Zivilcourage mehr zeigen ist jedenfalls grundsätzlich da und bedauerlich. Eine andere Frage ist, ob man diesen Mißstand an unbewiesenen Tathergängen kritisieren sollte, wo die Grundlage der Darstellung dann Hören-Sagen ist, man dem Leser aber eine Faktizität suggeriert.

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