Mittwoch, September 08, 2004

Warum sich der Westen nicht mit dem Osten solidarisieren will

während im osten der republik menschen gegen hartz IV auf die straße gehen, ist die teilnahmebereitschaft im westen eher gering. zwar finden sich auch hier menschen jeden montag zum demonstrieren zusammen, deren anzahl ist aber verhältnismäßig klein. neusten umfragen zu folge steigt im westen sogar langsam aber sicher die akzeptanz gegenüber den reformen [a], streckenweise ist bereits von einem abebben der proteste die rede [b]. ohne ein mitziehen des westens ist der protest im osten in jedem fall zum scheitern verurteilt, da nur ein gesamtdeutscher massenprotest wirklich zur rücknahme von hartz IV führen kann. anlaß genug, mal nach den gründen zu suchen, warum die protestbereitschaft im westen so schwach ist.

gliederung:

1) hartz IV trifft den osten wesentlich härter als den westen

2) abnehmende bereitschaft im westen den osten weiter "durchzufüttern"

3) im westen haben die "montagsdemos" keine tradition und es gibt dort auch nicht das gefühl "bürger zweiter klasse" zu sein

4) die entwertung der montagsdemo-tradition als beleg für die mangelnde demokratische reife der ostdeutschen

5) die "wir sind das volk"-rhetorik wird in der west-linken auch heute noch als nationalistische parole wahrgenommen

6) der westen ist nüchterner und realistischer als der osten

7) fazit

8) quellen

1) hartz IV trifft den osten wesentlich härter als den westen

der offensichtlichste punkt ist wohl jener, daß man im westen von den reformen nicht so hart getroffen wird, wie im osten. auch hier herrscht arbeitslosigkeit, allerdings nicht in den ausmaßen wie im osten. im osten sind prozentual mehr menschen arbeitslos und damit ist die bevälkerung auch stärker betroffen. es fehlen hier außerdem die im westen über jahrzehnte hinweg privat akkumulierten finanziellen rücklagen, die die kürzungen im sozialbereich ggf. abfedern können.

während es im westen tatsächlich noch einige arbeitsplätze geben mag, die unbesetzt sind, weil es an der bereitschaft von arbeitslosen mangelt, sie in anspruch zu nehmen, ist das im osten eher nicht der fall. der verstärkte druck auf arbeitslose sich auch unliebsame arbeit zu suchen (wie er durch hartz IV ausgelöst wird), kann nur da wirken, wo wirklich noch welche vorhanden ist. und das ist im westen sicherlich eher der fall als im osten. wenngleich natürlich auch im westen eine reform die keine neuen arbeitsplätze schafft, sondern nur druck ausübt unbesetzte arbeitsplätze zu besetzen, keine wirkliche lösung des problems darstellt. im westen werden also unbeliebte arbeitsplätze besetzt, im osten gibt es so gut wie keine mehr, die "sanktionen" der neuen gesetzgebung greifen hier viel stärker und belasten die bevölkerung.

2) abnehmende bereitschaft im westen den osten weiter "durchzufüttern"

während die demonstranten im osten laut "wir sind das volk" schreien, scheinen sie bisweilen zu vergessen, daß das volk nicht nur aus ihnen, sondern auch aus jenen besteht, die für die sozialleistungen aufkommen müssen. hier entsteht in deutschland ein nord-süd-gefälle, das aber oft noch als ost-west-gefälle wahrgenommen wird. die bevölkerung im westen hat also einerseits selbst immer weniger in der tasche, muß dabei aber andererseits mitansehen, wie viele der finanziellen mittel in den noch ärmeren osten fließen, ohne daß sich die lage im osten dabei sichtlich bessern würde.

im westen verstärkt sich also der eindruck, daß der osten endlich lernen muß auf eigenen füßen zu stehen. das kürzen der sozialleistungen bedeutet auch, daß diejenigen die in letzter konsequenz für diese sozialleistungen aufkommen müssen, nun weniger für sozialleistungen "spenden" müssen. daß ihnen das mehr in der eigenen tasche dann vom staat unter umständen an anderer stelle wieder abgenommen wird, steht auf einem anderen blatt.

die bereitschaft von erwerbstätigen sich mit arbeitslosen zu solidarisieren, ist schwach. zwar ist fast jeder von einer drohenden arbeitslosigkeit betroffen, doch solange die anzahl der arbeitslosen nur eine -- trotz allem immer noch deutliche -- minderheit gegenüber den erwerbstätigen ausmacht, wird es keine echte "revolution" gegen hartz IV geben.

3) im westen haben die "montagsdemos" keine tradition und es gibt dort auch nicht das gefühl "bürger zweiter klasse" zu sein

der protest gegen die demontage des sozialstaates äußert sich -- bislang -- im wesentlichen nur durch allwöchentlichen demos am montag. diese stehen in der tradition der "montagsdemos", die 1989 in der ddr enstanden und sich gegen das SED-regime und seine politik richteten. eine vergleichbare tradition gibt es im westen nicht. obwohl also die reformen auch den westen betreffen, werden diese demos hier als primär rein "ostdeutsches ding" wahrgenommen. zwar gibt es inzwischen auch entsprechende demos im westen, diese erreichen aber bei weitem nicht den zulauf wie im osten.

auch geht es im ostdeutschland nicht mehr nur um die hartz-gesetze, das unmutsgefühl sitzt viel tiefer. hartz IV ist hier nur der gipfel einer ganzen kette von prozessen und fakten. es werden westbeamte von der telekom in den osten geholt, damit diese hier arbeitslose beim ausfüllen der hartz-IV-bögen helfen; die löhne sind immer noch nicht vollständig an das westniveau angeglichen; usw. so ensteht bei vielen ostdeutschen der eindruck, "bürger zweiter klasse" zu sein. ein gefühl, daß es so aber nun mal im westen nicht gibt und dort dann den eindruck verstärkt, es ginge hier in wahrheit eigentlich um rein ostdeutsche minderwertigkeitskomplexe [c], für die man sich als westdeutsche aber wenn überhaupt nur sehr bedingt verantwortlich sieht.

4) die entwertung der montagsdemo-tradition als beleg für die mangelnde demokratische reife der ostdeutschen

historisch betrachtet, ist der begriff "montagsdemonstration" ein eindeutig konnotierter begriff. er bezeichnet die demonstrationen der ostdeutschen gegen das unrechtsregime in der ddr 1989. reaktivieren die ostdeutschen nun diese tradition im zuge der anti-hartz-proteste, rücken sie damit automatisch -- gewollt oder ungewollt -- die schröder-regierung in die nähe des SED-regimes. die montagsdemos richteten sich eben ursprünglich dezidiert gegen die ddr-diktatur und sollten daher nicht zu einer allgemeinen protestform gegen soziale ungerechtigkeiten verklärt werden. bei allem verständnis für die wut über die reformen: es besteht ein unterschied zwischen einer demokratisch gewählten regierung die den sozialstaat demontiert und einem unrechtsregime, das u.a. menschen an der landesgrenze erschießen ließ.

manche ostdeutsche mitbürger sehen wohl wirklich parallelen zwischen der ddr 1989 und der brd 2004, die mehrheit ist sich jedoch -- hoffentlich -- über den unterschied und die unvergleichbarkeit der beiden situationen im klaren. maßgeblich ist allerdings nicht nur wie etwas gemeint ist, sondern auch wie es aufgefaßt wird. und im westen wird die reaktivierung einer tradition die sich ursprünglich gegen eine sozialistische diktatur gerichtet hat, als zumindest "pietätlos" aufgefaßt. nicht zuletzt gegenüber jenen ostdeutschen bürgerrechtlern, die als vorreiter 1989 gegen die ddr-diktatur zu felde zogen und heute von einigen ostdeutschen als angepaßte und satte CDUler und SPDler verunglimpft werden.

für die einen ist der umstand, daß sich die ostdeutschen endlich wehren und aus ihrer lethargie erwacht sind also ein beleg für das funktionieren von demokratischen mechanismen. skeptiker sehen darin eher das unvermögen der ostdeutschen zwischen einer diktatur und einem demokratischen rechtsstaat zu differenzieren, weil sie heute dieselbe symbolik auffahren wie 1989 als es gegen die SED ging. was im westen also zumindest in einigen kreisen bitter aufstößt, ist weniger der umstand, daß es im osten einen protest gegen den sozialabbau gibt, sondern mehr die art und weise wie er von statten geht, welcher symbolik sich hier bedient wird.

5) die "wir sind das volk"-rhetorik wird in der west-linken auch heute noch als nationalistische parole wahrgenommen

während die protestler offensichtlich weniger probleme mit dem slogan "wir sind das volk" haben, ruft er bei teilen der linken -- besonders im westen -- eher unbehagen hervor [d]. dort wird das neu erwachte, nationale wir-gefühl von 1989/90 nicht nur mit der wiedervereinigung assoziiert, sondern auch mit den unmittelbaren folgeerscheinungen. dieser deutschtrunkene taumel in schwarz-rot-gold endete anfang der 90er jahre schließlich in rostock-lichtenhagen und hoyerswerda. "wir sind das volk" wird in der westlinken (und nicht nur da) als nationales exklusionskriterium wahrgenommen, denn "wir" beinhaltet auch immer, daß es andere geben muß, "die" eben nicht dazugehören, was bei einem völkisch bezogenem "wir"-begriff besonders kritisch zu sehen ist.

verstärkt wird dieser eindruck durch die berichte von rechtsextremen auftritten auf den "montagsdemos". von vielen ostdeutschen demoteilnehmern als panikmache der medien verworfen, ist es doch tatsache, daß zumindest in einigen städten rechtsextreme auf den demos toleriert werden. man möchte so viele menschen wie möglich ansprechen und auf den demos sehen, die politische ausrichtung ist dann sekundär, solange einen die gemeinsame abneigung gegen die reformen eint. diesem mangel an nötiger differenzierung, wer da nun eigentlich auf der demo erscheint, wirken glücklicherweise viele demo-teilnehmer und -veranstalter entgegen. dennoch sieht man in der westlinken mit diesen demos wohl auch das wiedererwachen des "häßlichen ostdeutschen", wie man ihn vom anfang der 90er jahre in erinnerung hat. dieser eindruck wird sich wahrscheinlich noch verstärken, sollte es der NPD bei den landtagswahlen in sachsen am 19. september tatsächlich gelingen [e], in den landtag einzuziehen.

6) der westen ist nüchterner und realistischer als der osten

letztlich ist im osten der republik der glauben wohl deutlich stärker, mit diesen protesten etwas bewegen zu können, als im westen. viele ostdeutsche scheinen nach dem motto zu verfahren "was einmal klappte, klappt auch ein zweites mal". nur gerade weil eben die situation von 1989 nicht mit der von 2004 vergleichbar ist, ist es unwahrscheinlich, daß durch diese "latschdemos" eine rücknahme der reformen herbeigeführt wird oder ein beitrag zum sturz der regierung geleistet werden kann.

entscheidend ist hier auch die frage nach den alternativen. während der westen eher bereit ist die hartz-gesetzgebung als alternativlos zu schlucken, will man dies im osten nicht akzeptieren. allerdings werden hier dann auch keine alternativen genannt. alle schreien die parolen von den PDS-plakaten nach; daß auch die PDS keine realpolitisch umsetzbare und wirksame alternative zu hartz IV auf der pfanne hat, scheint hier wenig zu stören. einfach nur gegen etwas zu sein, ist immer der einfachere schritt. alternativen zu entwerfen ist dagegen wesentlich schwieriger, gerade auf einem so komplexen feld wie der arbeitsmarktpolitik.

und "schröder muß weg" bedeutet in letzter konsequenz dann eben eine neue schwarz-gelbe regierung und ob diese dann reformen durchsetzt die "humaner" sind als die hartz-konzepte, muß doch stark bezweifelt werden.

im westen scheint sich also der realismus durchzusetzen, daß der beste protest nichts nutzt, wenn es keine greifbaren alternativen gibt. demgegenüber reicht den ostdeutschen das einfache dagegen sein, um auf die straße zu gehen. zwar gibt es auch einige anti-hartz-initiativen, die vielleicht einmal ein konstruktives gegenkonzept ausarbeiten, doch momentan fristen sie eher ein schattendasein hinter den montagsdemos. und spätestens wenn sich dann diese demos nicht mehr im zentrum des medieninteresses bewegen können [f], droht die gesamte protestbewegung als bald kein thema mehr zu sein.

7) fazit

anhand meiner ausführungen habe ich versucht deutlich zu machen, warum der -- sicherlich nicht unberechtigte -- protest gegen die hartz-gesetzgung zum scheitern verurteilt ist. grundvoraussetzung für einen erfolg wäre erstens ein überschwappen der bewegung in den westen, was bisher aber nur recht kläglich gelungen ist, woran sich aus oben genannten gründen kaum etwas ändern dürfte. zum zweiten bräuchte der protest in naher zukunft deutlich mehr inhaltliche substanz, um erfolg haben zu können. es müßten realistische alternativen entwickelt werden (und so zu tun, als lebe man noch im fordismus [g] und als gäbe es keine globalisierung, ist sicherlich nicht realistisch). auch das scheint sich aber nicht herauszukristallisieren.

8) quellen

[a] Politbarometer: Zustimmung zu Reformen steigt, Tagesspiegel, 27.08.04
[b] Protestwelle ebbt ab, SPON, 24.08.04
[c] Psychologe Maaz sieht im Osten "Kränkungswut", Tagesspiegel, 02.09.04
[d] Unmögliche Dialektik, Jungle World Nummer 38, 08.09.04
[e] Comeback der Nationalsozialen, Jungle World Nummer 38, 08.09.04
[f] Wann kommt Milbradt?, Telepolis, 12.08.04
[g] Fordismus Definition bei Wikipedia

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