Freitag, Oktober 05, 2007

Dear Wendy

"Dear Wendy" (2005) ist ein europäischer Spielfilm (produziert in Dänemark, Frankreich, Deutschland und GB) des dänischen Regisseurs Thomas Vinterberg nach einem Drehbuch seines Landmanns Lars von Trier (beide Mitbegründer des sog. "Dogma-Kinos"; wobei ich aber "Dear Wendy" definitiv nicht in diese Kategorie zählen würde).

Der Film spielt im us-amerikanischen Estherslope, einem fiktiven, im Niedergang begriffenen Provinznest in dem man entweder im Bergwerk arbeitet oder nicht viel zu tun hat. Dick (Jamie Bell), ein eher schmächtig wirkender Jugendlicher, hat überhaupt keine Lust dem Wunsch seines Vaters Folge zu leisten und wie dieser im Bergwerk zu arbeiten. Stattdessen hilft er zusammen mit dem gleichaltrigen Stevie (Mark Webber) lieber im örtlichen Supermarkt aus.

Für Sebastian (Danso Gordon), den Enkel der für Dicks Vater tätigen schwarzen Haushälterin Clarabelle (Novella Nelson), soll er ein Geburtstagsgeschenk besorgen und geht dazu in den örtlichen Spielzeugladen, in dem die introvertierte Susan (Alison Pill) für ihre Mutter arbeitet.

Da Dick Sebastian nicht leiden kann, ersteht er eine aus seiner Sicht häßliche Spielzeugpistole. Als er jedoch von Clarabelle erfährt, daß Sebastian generell sehr auf Waffen abfährt, sucht er sich lieber ein alternatives Geschenk (eine Ausgabe von Oscar Wildes berühmten Werk "Das Bildnis des Dorian Gray" bei der die letzten 20 Seiten fehlen). Einmal, da er wie beschrieben für Sebastian ein Geschenk will, das diesen nach Möglichkeit enttäuschen soll, zum anderen, da er sich selbst als Pazifist versteht und den gewaltaffinen Sebastian nicht mit einer Waffe auf dumme Ideen bringen möchte.

Da er nun ein neues Geschenk hat, möchte er die Spielzeugwaffe umtauschen und sein Geld wiederbekommen. Doch Susan teilt ihm mit, daß die Waren im Spielzeugladen vom Umtausch ausgeschlossen sind. Obwohl er eine Abneigung gegenüber Waffen hat, schafft es Dick nicht die Waffe wegzuschmeißen. Er trägt sie stattdessen mit sich herum und fühlt sich wohl dabei. Eines Tages fällt sie ihm bei der Arbeit aus der Tasche, was sein Arbeitskollege Stevie bemerkt und Dick darüber aufklärt, daß die Spielzeugwaffe in Wahrheit eine funktionstüchtige, echte Waffe ist.

Der Waffenkenner Stevie lädt daraufhin Dick ein, mit ihm zusammen in einem stillgelegten Teil der Mine das Schießen zu üben. Dick willigt aus Interesse ein und ist wie elektrisiert. Stevie fordert ihn auf, seiner Waffe einen Namen zu geben. Da es sich eher um eine Damenwaffe handelt, nennt Dick sie "Wendy". Dick und Stevie schießen nun regelmässig und beschäftigen sich intensiv, fast schon akademisch, mit Schußwaffen und ihrer Wirkungsweise. Obwohl Dick und Stevie ihre Waffen nur Nachts tief unter der Erde in einem Minenschacht ziehen, tragen sie sie auch tagsüber immer mit sich herum, wodurch beide deutlich an Selbstbewußtsein gewinnen.

Das Tragen der Waffen, die quasi religiöse Beziehung die sie zu ihnen aufbauen, ermöglicht es Dick und Stevie ihr Dasein als typische Verlierer hinter sich zu lassen. Das ermutigt Dick zu der Entscheidung, auch noch weitere Verlierertypen aus der Stadt hinzuzuziehen und mit ihnen einen Club aufzumachen, den Dick die "Dandies" nennt. Neben ihm und Stevie treten diesem Club auch die schüchterne Susan, der gehbehinderte Huey (Chirs Owen) sowie dessen kleiner Bruder Freddie (Michael Angarano) bei. Huey läuft auf Prothesen, da er keine Beine hat; Freddie wird wegen der Behinderung seines Bruders regelmässig verprügelt und Susan leidet darunter nur kleine Brüste zu haben.

Nach anfänglicher Skepsis fühlen sich auch die neuen Mitglieder im Club wohl, gewinnen ebenfalls deutlich an Selbstbewußtsein. Dick wird zum Präsidenten der "Dandies" ernannt, er legt eine Reihe von Regeln fest, die wichtigste lautet, daß es bei der ganzen Sache um Pazifismus geht: Es wird zwar ein Fetischkult um die Waffen zelebriert (die nicht nur alle eigene Namen tragen, sondern teilweise auch wie Personen behandelt werden), die oberste Regel besagt jedoch, daß diese niemals gegen Personen eingesetzt werden dürfen und niemals außerhalb des neuen "Clubhauses" in der Mine gezogen werden dürfen. Gemeinsam studiert man gerichtsmedizinische Dokumentationen, diskutiert darüber welche Waffe welche Austrittswunde verursacht, welcher Waffentyp zu welcher Person paßt, etc. Auch kostümieren sich die "Dandies" wie Cowboys, spielen Rollenspiele.

Nachdem sein Vater verstorben ist und Haushälterin Clarabelle aus Altersgründen gekündigt hat, werden die "Dandies" zu Dicks Ersatzfamilie. Er ist glücklich und die Welt könnte für ihn nicht besser sein. Bis eines Tages Sheriff Krugsby (wie immer genial: Bill Pullman) an seine Tür klopft und ihn bittet, eine Art "Bewährungshelfer" für Sebastian zu spielen. Dieser hat Ärger am Hals und jemanden erschossen (der sonst ihn erschossen hätte, wie Sebastian betont). Sebastian sollte eine positive Bezugsperson im gleichen Alter benennen, die ihm als Vorbild dienen kann. Dem fiel dabei nur Dick ein und dieser kann dem Sheriff den Gefallen nicht abschlagen. Von nun an muß sich Sebastian einmal in der Woche bei Dick melden.

Dick beschließt aus Sebastian einen echten "Dandy" zu machen, er weiht ihn ein und stellt ihn der Gruppe vor. Für Sebastian sind die "Dandies" nur Spinner, er hält sie für völlig irre. Dennoch schafft er es sich in die Gruppe zu integrieren, wird von den Clubmitgliedern schnell bewundert. Nur Dick kommt mit der neuen Situation nicht klar, stellt Sebastian doch unbewußt Dicks Führungsposition in Frage, entspricht aber gleichzeitig mit seiner Rüpelhaftigkeit auch überhaupt nicht dem Ehrenkodex, den Dick sich für die Gruppe ausgedacht hat. Als Sebastian dann auch noch besser mit "Wendy" schießen kann, als Dick, scheint für letzteren eine Welt zusammenzubrechen. Dick fühlt sich von seiner Waffe "betrogen" und hängt sie an die Wand, führt stattdessen nun eine andere mit sich.

Während Dick an seiner romantischen Vorstellung von der Vereinbarkeit von Waffen mit Pazifismus festhält, sieht Sebastian die Sache nüchterner. Für ihn tragen die Menschen Waffen, weil sie Angst haben, das gelte auch für die "Dandies". Um gegenüber Dick seinen Standpunkt klarzumachen erwähnt Sebastian seine Großmutter Clarabelle. Diese sei inzwischen an Alzheimer erkrankt und habe so eine panische Angst vor jedem und allem, daß sie sich nicht mal mehr aus dem Haus traue. Selbst den jährlichen Geburtstags-Besuch zur Cousine, die nur eine Straße weiter wohnt, könne sie nicht mehr absolvieren.

Daraufhin setzt sich Dick in den Kopf, zu beweisen, daß es nicht nur um Angst geht. Er will mit seiner Truppe Clarabelle beim zwei minütigen Fußweg zu deren Cousine eskortieren, ihr die Angst nehmen, und somit Sebastian widerlegen (die Logik ist etwas verquer, aber sei's drum). Während Sebastian und Dick nicht von Clarabelles Seite weichen, postieren sich die anderen "Dandies" an verschiedenen Plätzen auf dem Weg zur Wohnung der Cousine. Doch als Clarabelle stürzt, eilt ein Deputy herbei, um ihr zusammen mit Sebastian und Dick aufzuhelfen. Dabei kommt es zu einer kleinen Rangelei, die paranoide und verwirrte Clarabelle fühlt sich bedroht und zieht aus ihrer Tasche eine (kurze) Schrotflinte. Es kommt zum Desaster, Clarabelle drückt ab, der Deputy ist sofort tot.

Sheriff Krugsby eilt herbei, die "Dandies" betonen, daß es nur ein Unfall war und flüchten mit Clarabelle in ihr Versteck in der Mine. Krugsby übermittelt ihnen das Angebot, daß sie ihre Waffen behalten dürften, solange sie nur Clarabelle ausliefern würden. Diese solle dann in eine Klinik kommen. Dick und seine Freunde willigen ein, doch bei der Übergabe stellen sie fest, daß der Sheriff eine Automatik trägt. Aus ihrer intensiven Beschäftigung mit Waffen und ihren Trägern wissen sie: Jemandem mit diesem Waffentyp kann man nicht trauen. Sie ziehen sich erneut in die Mine zurück und aus dem Aufgebot an Deputies die der Sheriff im Hinterhalt hatte, läßt sich schlußfolgern, daß ihre Annahme, das Ganze wäre eine Falle gewesen, nicht unbegründbar war.

Der Sheriff und seine Männer durchsuchen das "Clubhaus" in der Mine, können jedoch die "Dandies" und Clarabelle nicht finden, die sich in einem geheimen Raum verstecken. Da die "Dandies" ihre Waffen nicht abgeben wollen und auch nicht ewig im Versteck bleiben können, macht Dick den Vorschlag, die "Mission" zu ende zu führen. Also Clarabelle und ihren Kaffee (das alljährliche Geschenk) zur Cousine zu eskortieren. Es kommt zum Showdown mit den Polizeikräften, bei dem die "Dandies" zwar auch einige Deputies ausschalten können, letztlich aber natürlich der Übermacht erliegen.

Die beiden letzten Überlebenden sind Dick und Sebastian. Dick schafft es Clarabell bis in die Wohnung der Cousine zu bringen, droht aber nun von einem Scharfschützen von der gegenüberliegenden Seite erschossen zu werden. Sebastian hat die letzten Seite des "Tagebuchs" (oder "Abschiedsbriefs") gelesen, die Dick an seine "Wendy" geschrieben hat. Darin äußert er den Wunsch, wenn schon, dann durch eine Kugel aus "Wendy" selbst zu tode zu kommen. Nun sieht Sebastian "Wendy" auf dem Boden liegen (sie wurde zuvor von der Polizei in der Mine konfisziert, wie sie auf die Straße kam, wird nicht aufgelöst). Unter Beschuß sammelt Sebastian die Waffe ein, stürmt in die Wohnung der Cousine und schießt Dick in den Rücken. Anhand der Austrittswunde an seiner Brust kann Dick erkennen, daß er durch eine Kugel aus "Wendys" Lauf erschossen wurde und stirbt glücklich. In dem Moment eröffnet die Polizei erneut das Feuer und schießt die Wohnung samt Personen in Stücke.

Thomas Vinterberg und Lars von Trier ist es mit "Dear Wendy" ein unkonventioneller Film über den Waffenfetischismus in den USA gelungen, der statt auf Betroffenheit lieber auf Humor setzt, dabei aber zeitgleich auch die nötige Ernsthaftigkeit mitbringt. Statt fanatischer Waffenliebhaber bekommt der Zuschauer ein paar unsichere Teenager zu sehen, die allein durch das Tragen der Waffen zu Stärke und Selbstbewußtsein finden, ohne dabei gleich die Tendenz zu entwickeln, ihren Mitmenschen nach dem Leben zu trachten oder den Finger allzu locker am Abzug zu haben.

Das Bedürfnis nach Werten, nach Halt, nach einer Orientierung in einer völlig verwahrlosten Umgebung führt dazu, daß sich die Clique von Heranwachsenden eine eigene Welt schafft, in die sie einen romantisch anmutenden "Ehrenkodex" aus der Vergangenheit importiert. Der verschrobene, offenbar beziehungsunfähige Pazifist und Freidenker Dick baut ausgerechnet zu einer Schußwaffe eine "Liebesbeziehung" auf und verfolgt seine Idee eines "Dandy"-Clubs mit einer Ernsthaftigkeit, die seine Mitstreiter zwar nicht in gleicher Intensität teilen, ihm aber trotdem folgen und sich ebenso von den selbst entwickelten Ritualen mitreißen lassen.

"Dear Wendy" ist dabei auch ein Gegenentwurf zum klassischen Stereotyp des gehänselten und ausgegrenzten High School Außenseiters, der eines Tages durchdreht, zum Amokläufer wird und danach strebt möglichst viele Mitschüler und Lehrer niederzumetzeln. Dennoch kommt es natürlich auch in "Dear Wendy" zur Eskalation, die erdachte Scheinwelt in der die "Dandies" leben prallt mit unverminderter Härte auf die Realität und mündet in dem Versuch der Teenager sich ihren Weg freizuschießen, ihre "ehrenvolle Mission" zu ende zu führen und dabei lieber zu sterben als ihre innig geliebten Waffen abzugeben.

ARTE zeigte "Dear Wendy" bereits am 03.10., es gibt noch zwei Wiederholungen am 05.10. und 18.10., leider jeweils erst um 3 Uhr nachts, aber wozu hat der Mensch Videorekorder. Es ist in jedem Fall ein wirklich lohnenswerter Film, der von kleineren logischen Unstimmigkeiten abgesehen sowohl von der Handlung her, aber eben besonders auch durch die schauspielerische Leistung, überzeugt.

Keine Kommentare: