Montag, April 10, 2006

My way or the highway

Jürgen Klinsmanns Ruf, einsame, unbequeme Entscheidungen zu treffen, eilt ihm voraus. Wenn man aufzählt, mit welchen Entscheidungen er in seiner Funktion als Bundestrainer bisher immer wieder halb Fußballdeutschland gegen sich aufgebracht hat, kommt so einiges zusammen. Er hat...

  • ... die Leitung der Mannschaft mit ihm als Trainer, Oliver Bierhoff als Manager und Joachim Löw als Co-Trainer drei geteilt.

  • ... einen Chefscout aus der Schweiz, einen Psychologen von der Uni Heidelberg und einen Fitnesstrainer aus Arizona engagiert und damit eine kontroverse Debatte ausgelöst, wie optimales Fußballtraining und -management heutzutage eigentlich auszusehen hat.

  • ... Sepp Maier nach 17 Jahren als Bundestorwarttrainer entlassen, weil der zu eindeutig an Oliver Kahn als erstem Keeper geklebt hat.

  • ... Christian Wörns aus dem Kader der Nationaelf gekickt, nachdem dieser sich despektierlich über seine Nichtnominierung bei einem Spiel geäußert hatte.

  • ... sich mehrmals den Ärger Beckenbauers zugezogen, zuletzt durch sein Fernbleiben beim WM-Workshop in Düsseldorf, an dem eigentlich alle Trainer aller WM-Mannschaften teilnehmen sollten.

  • ... Jens Lehmann zur Nummer Eins im deutschen Tor erklärt, nachdem diese Position lange Zeit Oliver Kahn zugestanden hatte.
Alle diese Entscheidungen und Maßnahmen (es wären vermutlich noch ein paar weitere zu nennen) haben nicht eben zu einer Steigerung von Klinsmanns Beliebtheit beigetragen. Vielen Deutschen gilt er als zu arrogant, zu eigensinnig. Insbesondere, daß er trotz Bundestrainer-Tätigkeit in den USA lebt und seinen Trainingsstil amerikanisiert hat (Psychologe, spezieller Fitness-Coach, etc.) hat ihm viele Sympathiepunkte gekostet. Zudem wagt er es immer wieder sich gegegen die drei großen "B"s im deutschen Fußball aufzulehnen: Beckenbauer, Bayern, Bild. Und jetzt auch noch die Enthronisierung Kahns. Thomas Pany faßt es in einem Telepolis-Artikel wie folgt zusammen:

"Damit hat sich Kalifornien-Jürgen selbst zum kühnen Helden gemacht, weil er gewagt hat, was sich deutsche Führungs-Politiker nicht trauen: Der Bildzeitung einen Handschuh hinwerfen - und gleich ein ganzes Paar, lässig. (...) Auch der Engländer Lehmann hat bei Bild keine so guten Freunde wie der deutsche Titan. Kahn kann auf Bild-Kaiser Beckenbauer zählen und die Bild affinen Bayern-Fürsten, die Klinsmann jetzt wohl noch weniger mögen. Jüngste Äußerungen der Bayern-Granden machten klar, dass sie Klinsmann als Ärgernis empfinden. Man muss nicht weit suchen, um die Quelle des Ärgernisses zu finden: gelassene Unabhängigkeit." (Telepolis)

Klinsmann also als Underdog, der sich wacker der Übermacht aus Kaiser, Bayern-Fürsten und Bild-Redaktion entgegenstemmt? Es gibt natürlich auch eine andere Darstellung der Geschichte, die Klinsmanns eigenes, als sehr einflußreich geltenes Netzwerk betont. So schreibt etwa Wolfram Eilenberger in Cicero über Klinsmanns Firma "Soccersolutions":

"In Kalifornien war er vor allem Fußball-Geschäftsmann. Gemeinsam mit dem ehemaligen Adidas-Manager Warren Mersereau und Mick Hoban – einem weiteren Schwergewicht im globalen Fußballgeschäft – ist Klinsmann Inhaber der Firma 'Soccersolutions'. Soccersolutions besteht aus einer Website, drei E-Mailadressen und einem globalen Netzwerk von Freundschaften und langjährigen Geschäftsbeziehungen. Die Fäden reichen vom Sitz des Brasilianischen Fußballverbandes bis ins Zentrum des amerikanischen Nike-Konzerns. Die gesamte Konzeption, die Klinsmann für die Zukunft des Deutschen Fußballs erdacht hat, ist ein Werk dieses Dreigespanns. Weshalb nicht wenige in der Frankfurter Zentrale des DFB befürchten, in Gestalt Klinsmanns von einem Netzwerk ferngesteuert zu werden, dessen Interessen weder durchschaut noch kontrolliert werden können." (Cicero)

Also "Soccersolutions" als einflußreiches Gegengewicht zur "Triple-B-Allianz"? Zumindest im Inland sind die drei großen Bs tonangebend, insofern kann man Klinsmanns Entscheidung Pro-Lehmann schon als mutig bezeichnen. Endgültig klar ist damit aber auch, daß Klinsmann nichts mehr zu melden haben wird, wenn die deutsche Elf den Titel nicht tatsächlich holt. Aber das war vielleicht schon von Anfang an klar. Klinsmanns Vertrag läuft im Juli 2006 aus und er hat bisher keine Anstalten gemacht, ihn verlängern zu lassen. Es wäre dann aber immerhin der vielleicht erste Vertrag, den er nicht vorzeitig kündigt:

"Da scheint es auf, das Muster aus Perfektionismus, sozialem Engagement und radikalem Eigensinn, für das der Bundestrainer schon als Spieler berüchtigt war. My way or the highway. Tatsächlich hat Jürgen Klinsmann in seinen 15 Jahren als Spitzen-Profi keinen einzigen Vertrag erfüllt. Ob in Stuttgart, Mailand, Monaco, London, München und Genua, stets ging der Weltklassestürmer vor der Zeit. Von Streit hat Klinsmann indes nie gesprochen. In seiner Welt heißt das 'andere Vorstellungen'. Meist waren es finanzielle." (Cicero)

Ob die Entscheidung Lehmann den Vorzug vor Kahn zu geben sachlich richtig war, ist auch bei den Kommentatoren umstritten. Die meisten tendieren aber soweit ich es überlicke dazu, Klinsmann recht zu geben, da Kahn in den letzten Wochen deutlich geschwächelt hatte, während sich sein Konkurrent Lehmann in Topform präsentierte. Achim Achilles frotzelt in seiner SPON-Kolumne:

"Unser Olli, das ist so ein tragischer Testosteron-Fühler. Fletscht und brüllt und fuchtelt und hüpft immer noch herum wie ein wilder Stier. Aber es ist nicht mehr so wie früher. Auch wenn er es so gern will. Es ist leider nur noch so-tun-als-ob. So wie Klaus Meine von den 'Scorpions': Schwarze Mütze über der Halbglatze, Lederhose mit Elastikbündchen und 'Wind of Change', lebenslänglich. Nun also unser Olli. Noch so einer, der die Kurve nicht im richtigen Moment gekriegt hat. Morbus Scharping. Einer, der sich öffentlich demütigen lassen muss, weil er Stolz und Dickköpfigkeit verwechselt und einfach nicht merken will, wann es genug ist." (SPON)

Achilles beschreibt Kahn als jemand der seinen Zenit überschritten hat, der seinen Testosteron-Fluß vortäuschen muß, weil dieser längst ausbleibt. Kahn ist einfach zu alt. Was Achilles dabei wissentlich oder unwissentlich außen vor läßt ist, daß Lehmann genau wie Kahn Jahrgang 1969 ist. Lehmann mag vielleicht zur Zeit in besserer Form sein, jünger und "testosteronreicher" ist er damit nicht. Die jW-Autorin Uschi Diesl ist mit Klinsmann Entscheidung weniger zufrieden als der SPON-Kollege und schreibt bissig:

"Unverbrauchter Offensivfußball ist Klinsmanns Markenzeichen. Wer gute Erfahrungen mit der gegenteiligen Auffassung gemacht hat, daß Hauptsache hinten die Null steht, der nervt und muß weg. Weil der deutsche Fußball vor Klinsmann defensiv ausgerichtet war, nervt im Prinzip jeder erfahrene Spieler. Lehmann kommt nicht auf ein Drittel der Länderspieleinsätze von Kahn, und spielt im Gegensatz zu diesem liebend gern mal vorne mit. Während Kahn Fehler nur aus übersteigertem Perfektionsanspruch macht, ist Lehmann für großkotzigen Leichtsinn bekannt. Kahn hält eher zu wenig von sich, Lehmann eher zu viel. Deswegen paßt er besser ins System Klinsmann." (junge Welt)

Mit "großkotziger Leichtsinn" ist hier vermutlich Lehmanns "libero-artiges Spiel außerhalb des Strafraums" (Wikipedia) gemeint, das ihm schon mehrere Gegentore eingebracht hat.

Auffällig ist, daß solche ja eigentlich sachlichen Fragen in der öffentlichen Diskussion nicht mal im Vordergrund stehen. Es geht immer nur darum, ob die ganze Sache nicht ein abgekartetes Spiel war, ob für Klinsmann nicht von Anfang an klar war, daß es Lehmann wird, ob Klinsmann von Anfang an Kahn systematisch demontiert hat oder ob nicht umgekehrt Beckenbauer und Co. ständig versucht haben Klinsmann zu diskreditieren und dieser einfach reagieren mußte. Oder gab es vielleicht ganz andere, ökonomische Interessen? Rudi Brückner schreibt in einer eurosport.de-Kolumne:

"Dass der frühere Berater von Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff seit längerer Zeit schon der Berater von Jens Lehmann ist und dieser selbstverständlich ein persönliches Interesse an großer Vermarktung seines Schützlings hat und seinen 'guten Draht' zu seinem früheren Schützling genutzt hat, sei hier nur am Rande dieses abgekarteten Spiels erwähnt." (eurosport.de)

Und wie passen eigentlich Klinsmanns Ambitionen die er mit seiner Firma "Soccersolutions" hegt in dieses Spiel? etc. pp. Die Mutmaßungen und Verschwörungstheorien sprießen, die Kommentatoren spalten sich in ein Pro- und ein Kontra-Klinsmann-Lager.

Die Frage ist, ob der Zeitpunkt richtig gewählt war. Hätte Klinsmann noch bis nach dem Bremen-Spiel warten sollen? Auch das wäre von Kahn-Befürwortern doch als unpassend gewertet worden, weil es dann geheißen hätte, Klinsmann nimmt das eine schlechte Spiel gegen Bremen zum Anlaß. Hätte er die Entscheidung noch länger hinauszögern sollen? Es waren doch gerade die Bayern, die Druck machten, daß er sich endlich entscheiden sollte. Christian Gödecke schreibt bei SPON:

"Liebe Bayern, wer hat denn diese schnelle Entscheidung gefordert? Wer hat den öffentlichen Druck entfacht? Die Antwort sind die Münchner selbst, und die Erkenntnis daraus so ironisch wie bitter zugleich. Mit ihren an Penetranz grenzenden Zwischenrufen nach einer Entscheidung pro Kahn und den ungefragt geäußerten Schutzbehauptungen im Anschluss an jeden Fehler ihres Keepers (Tenor: Kahn patzt, weil er seinen Stammplatz im DFB-Team nicht sicher hat) haben die Bayern-Verantwortlichen ihrem Torwart mehr geschadet als genützt." (SPON)

Sicher wurden Kahn und Lehmann durch dieses Hinhalten, das nicht-endgültig-festlegen-wollen unter Druck gesetzt. Doch gerade darum ging es doch, festzustellen, wie sich die beiden unter Druck verhalten. Denn der Druck, dem der Keeper dann während der WM im eigenen Land ausgesetzt ist, dürfte noch mal ungleich höher sein. Die letzten Wochen haben gezeigt, daß Lehmann offenbar besser unter Druck spielen kann, als Kahn -- obwohl dies ja eigentlich besonders dessen Stärke sein soll.

Und ein Bundestrainer, der sich in seiner Entscheidungsfindung nach Bild, Beckenbauer oder dem Volksmund richtet, wäre uns das tatsächlich lieber? Man sollte Klinsmann machen lassen, ob er mit seinen Entscheidungen richtig lag oder nicht, wird sich ohnehin erst im Sommer endgültig klären lassen.

Eher Pro-Klinsmann-Artikel:
- Thomas Pany, "Nur einer ist Titan: Klinsmann", TP, 08.04.06
- Achim Achilles, "Ollis Testosteron-Nostalgie", SPON, 08.04.06
- Christian Gödecke, "Die Rache des Dickschädels", SPON, 08.04.06

Eher Kontra-Klinsmann-Artikel:
- Wolfram Eilenberger, "Looking for Jürgen", Cicero, 03/06
- Uschi Diesl, "Ausgebufft ausgebootet", junge Welt, 08.04.06
- Rudi Brückner, "Brückners Breitseite", eurosport.de, 08.04.06

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

ich bin immer wieder baff wie viel zeit du in eine solche recherche steckst. tolle zusammenfassung.

ich find klinsi´s neuen wind eigentlich ganz erfrischend. obs den gewünschten erfolg bringt .... naja, ich glaub kaum weil uns einfach die spieler fehlen. aber hey, ich bin echt verblüfft, dass du was über fußball schreibst :D

Bloomsday hat gesagt…

> ich bin immer wieder baff wie viel
> zeit du in eine solche recherche
> steckst.

Das ist der pure Eskapismus :p, ich müßte in der verwendeten Zeit natürlich eigentlich anderes erledigen, auf das ich aber keine Lust habe.

> aber hey, ich bin echt verblüfft,
> dass du was über fußball schreibst
> :D

Würde es wirklich nur um Fußball gehen, würde mich das Ganze vermutlich auch nicht interessieren. Aber die genauere Betrachtung zeigt ja, daß es de facto um mehr geht: Machtspielchen, Politik, Intrigen, ökonomische Interessen, gesellschaftliche Befindlichkeiten, usw. Das hat dann mit "Sport" im engeren Sinn vielleicht nicht mehr viel zu tun, macht es aber für eine Analyse interessanter.