Seit 2003 platziere ich jedes Jahr am 11.09. einen Thread in den MSN Groups (2003, 2004, 2005), der den Titel "Im Gedenken an 9/11" trägt. Das Ausgangspostings enthält nichts weiter als ein Bild von Salvador Allende. Zwar erkennt natürlich nicht jeder sein Gesicht, aber aus dem Namen der entsprechenden Jpeg-Datei geht hervor, wer die Person ist. Nicht ganz klar ist den meisten, was nun Allende mit "9/11" zu tun hat, denn die meisten assoziieren mit dem 11. September natürlich den Terroanschlag von 2001 und nicht den Putsch von 1973 in Chile (in den die USA verwickelt waren).
Ursprünglich entstanden ist diese "Tradition" heraus als Persiflage der pathos-triefenden 9/11-Gedenkpostings in den MSN Groups (mit protzigen, animierten Gifs, usw.). Zwar ist natürlich generell nichts gegen Trauer und Gedenken zu sagen, die Frage stellt sich aber dennoch: Warum wird jedes Jahr der Opfer vom 11.09.2001 gedacht, aber nicht der vom 11.09.1973 (bzw. der Folgeopfer in der Pinochet-Diktatur)?
Hier das Posting vom letzten Jahr aus meinem alten Nucleus-Blog:
Im Gedenken an den 11.09. ...
seit den anschlägen in new york 2001 wird weltweit alljährlich am 11.09. der opfer dieses terrors gedacht. bei all dem tamtam verliert man schnell aus den augen, daß sich am 11.09. auch noch ganz andere historische ereignisse jähren.
so wurde z.b. vor 31 jahren am 11.09.1973 der chilenische präsident salvador allende im zuge eines putsches ermodert. ihm folgte die diktatur pinochets, der bis zu ihrem ende etwa 3000 menschen zum opfer fielen. allende war demokratisch gewählt, stand jedoch als kommunist den interessen der us-regierung entgegen, so daß dann wohl auch die CIA in den sturz allendes mitverwickelt war. völlig unverblümt brachte das der spätere us-außenminister henry kissinger 1970 auf den punkt, als er im hinblick auf den bevorstehenden wahlsiegs allendes in chile sagte: "I don't see why we need to stand by and watch a country go communist because of the irresponsibility of its own people."
wenn also in einem land eine kommunistische regierung frei gewählt wird, dann zeugt das von der unverantwortlichkeit der bevölkerung in diesem land und die USA müssen dies nicht hinnehmen. so wurde die beteiligung am putsch legitimiert und die rechtsgerichtete diktatur unter pinochet gut geheißen, weil sie aus sicht der USA eine angenehmere alternative zu einer allzu linksgerichteten regierung war.
wenn sich die welt nun jährlich an die opfer von 2001 in new york erinnert, aber keiner an diesen blutigen putsch, was bedeutet das dann? daß ein us-bürger, der von islamistischen terroristen ermordert wurde, eher betrauert werden sollte, als ein chilenischer bürger der in einer diktatur umgekommen ist, die von den USA mitinstalliert wurde? oder liegt es daran, daß es von 1973 keine so medienwirksamen bilder gibt, wie von 2001? oder einfach daran, daß 2001 kürzer zurück liegt und immer noch aktuell ist, während die süd-amerika-politik der USA im kalten krieg keinen mehr interessiert?
"selektive geschichtswahrnehmung" bedeutet, man nimmt nur den teil der vergangenheit wahr, der ins eigene, aktuelle weltbild paßt. der unangenehme rest wird ausgeblendet, wenn er im pathosschweren und patriotismustrunkenden gedöns keinen platz mehr findet.
Zum Nachlesen:
- taz, 1998: Der Putsch in Chile
- Telepolis, 2003: Der Putsch in Chile
- Telepolis, 2003: Der erste 11. September
- Freitag, 2003: Zusehen, wie ein Land kommunistisch wird?
- Historische Übersicht über US-Militärinterventionen in Amerika
- Chile Documentation Project (CIA-Papiere zu Chile)
Sonntag, September 11, 2005
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